Mondherz
bei Pavel Hilfe zu suchen. Miklos hatte ihr das noch gesagt, bevor sie selbst sich zu Viktor aufgemacht hatte. Sie dachte nicht gern an den Abschied oder an irgendetwas anderes, was damit zu tun hatte, doch nun überkamen sie Sorgen um ihr Rudel. Hatten sie erneut fliehen müssen, als der König in die gleiche Stadt gereist war? Sie biss sich fest auf die Lippen. Der Schmerz vertrieb Gábors Gesicht aus ihren Gedanken. Sie wollte sich nicht mehr um ihn kümmern.
»Der Reichstag hat auf Geheiß des Königs erneut die Steuern erhöht«, fuhr Ilai fort. »Allerdings widerwillig, wie es heißt. Die Adligen spüren die Unruhe des Volkes und beginnen sie zu teilen. Jetzt, da der König fort ist, trauen sie sich auch am Hof, ihre Unzufriedenheit zu äußern.«
Viktor nickte. Veronika konnte seinem Gesicht nicht ablesen, was er dachte. »Schicke einen deiner Männer nach Prag«, sagte er. »Ich werde heute Nacht noch einen Brief für Gábor schreiben.«
Gábor war also noch dort. Veronika biss sich erneut fest auf die Lippen.
»Vielleicht geschieht in Prag gerade mehr, als gut für uns ist«, murmelte Viktor so leise, dass nur Veronika es verstand. Beunruhigt starrte sie ihn an, doch er schien es nicht zu bemerken.
»Wir haben nicht mehr lange Zeit«, sagte er und kniff die Augen zusammen. »Drăculea hat einen von euch gefangen genommen. Er wird bald wissen, wo ich bin.«
»Du glaubst, dass Cilo reden wird?«, fragte Solana. In ihrer Aufregung flatterten ihre Hände wie Vögel. »Cilo ist ein Roma. Er wird eher sterben, als dich zu verraten.«
Ilai legte ihr eine Hand auf den Arm. Er blickte ernst. »Cilo ist ein guter Mann«, sagte er. »Doch auch der Tapferste redet unter der Folter. Früher oder später.«
Solana wurde blass. Sie sagte nichts mehr, schlang nur ihre Arme um ihren Bauch, als wolle sie ihr ungeborenes Kind vor den finsteren Worten schützen.
»Drăculea darf nicht noch mehr Leid unter uns verbreiten«, sagte die Phuri Dai in die Stille hinein. »Wir müssen den Sfântul Munte verlassen.«
Ilai nickte grimmig. »Er wird nur leere Höhlen finden.«
»Nein«, widersprach Viktor. »
Ihr
verlasst die Höhlen. Ich bleibe.« Sein zerfurchtes Gesicht sah ruhig aus, so als hätte er diese tödliche Entscheidung nicht erst gerade eben getroffen.
Veronika riss ungläubig die Augen auf. Auch in Ilais und Solanas Mienen las sie Überraschung. Nur die Phuri Dai blickte traurig drein, als hätte sie damit gerechnet.
Die Roma würden Viktor nicht widersprechen, erkannte sie. Sie ballte die Fäuste. »Du kannst nicht allein hierbleiben«, rief sie. »Du bist verletzt. Das wäre Selbstmord.«
Viktors blaue Augen richteten sich auf sie. Ihre Wölfin duckte sich vor der Kraft, die er ausstrahlte, doch ihre menschliche Seite sah nur einen müden alten Mann.
»Ich habe genug davon, vor Mirceas Abkömmlingen davonzulaufen«, sagte er. Er sprach, als wäre sie allein mit ihm im Raum. »Drăculea wird die Roma weiter schinden, bis ich etwas tue. Zu lange habe ich gewartet. Ich werde ihm gegenübertreten, und dann werde ich ihn töten.«
»Aber der Graf wird nicht selbst kommen«, rief sie. »Er wird seine Männer schicken, um Euch zu töten.«
Viktors Augen wurden dunkel, sein Herzschlag kräftiger. Erst schien es ihr, als wolle er sich verwandeln. Ihre Wölfin richtete sich wachsam auf. Doch dann sah sie, wie sich sein Blick nach innen richtete. Seine Hände zitterten. Er kämpfte mit sich, erkannte sie, und das erschreckte sie mehr als alles andere. Sie kannte den Widerstreit mit ihrer Wölfin nur zu gut, doch nie hätte sie geglaubt, dass ein Ältester genauso kämpfen musste.
Sein Wolf will nicht hierbleiben,
erkannte sie.
Er kämpft um sein Leben.
Doch der Wolf war schwächer als der Mensch, und Veronika sah, wie Viktor ihn niederrang. »Drăculea wird mich gefangen nehmen lassen.« Seine Stimme knirschte wie Sand. »Er wird mir gegenübertreten und mich für einen gebrochenen alten Mann halten, bis ich ihm die Kehle zerreiße.«
Veronika hielt dagegen: »Danach werden seine Männer Euch umbringen.«
Er sagte nichts, sah sie nur an. Stille breitete sich wie ein Leichentuch über die Gruppe.
Sein Tod ist ihm gleichgültig.
Veronikas Gedanken rasten. Sie hatte nicht gedacht, dass ihr so viel an diesem mürrischen Mann lag, dem die Roma näherzustehen schienen als sein eigenes Volk.
»Dann bleibe ich auch hier.« Sie sah ihm direkt in die Augen, legte all ihre Kraft in diesen einen Blick, und zum ersten Mal
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