Mondherz
schlief. Veronika begriff, dass Viktor sie nicht wecken wollte.
»Ist es bereits Nacht?« Er flüsterte. Seine Augen blickten unstet hin und her.
Veronika zuckte zusammen. Seine Sinne waren immer so fein gewesen, dass bisher nur sie solche Fragen gestellt hatte. Einmal hatte sie hinausgehen wollen, um Wasser von der nahen Quelle zu holen, und er hatte den Kopf geschüttelt. »Warte noch«, hatte er gesagt. »Der Regen wird gleich nachlassen.«
Sie senkte den Kopf, um zu verbergen, wie erschüttert sie war. »Der Abend dämmert«, wisperte sie.
Er sagte so lange nichts, dass sie irgendwann wieder aufblickte, weil sie glaubte, er hätte sie nicht gehört. Als sie die Worte wiederholen wollte, sprach er jedoch.
»Wenn es Nacht ist, bring mir Ilai«, murmelte er. »Und seine Tochter, die geholfen hat, meine Wunden zu versorgen. Sorg dafür, dass sie zuvor etwas essen.«
»Braucht Ihr auch etwas?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf so langsam, als fiele ihm selbst diese kleine Bewegung unendlich schwer. »Komm wieder, wenn es dunkel ist.«
Zwei Romafrauen halfen Veronika, das Essen vorzubereiten. Als es fertig war und sie Solana und ihren Vater weckte, standen bereits die ersten Sterne am Himmel. Sie ließen sich draußen nieder, auf den Teppichen, die die Roma um die Feuerstelle gebreitet hatten. Solana hatte ihren Mann schlafen lassen, und auch sie sah aus, als könne sie noch mehr Schlaf gebrauchen. Sie lächelte jedoch unverdrossen, wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser und hörte Veronika aufmerksam zu, als sie Viktors Anweisung weitergab.
Ilai saß neben ihr. Veronika betrachtete ihn neugierig. Er strahlte eine innere Kraft aus, die sie beeindruckte. Stolz prägte seine Gesichtszüge, als regiere er nicht eine Familie, sondern ein ganzes Volk. Bei diesem Gedanken runzelte sie die Stirn. Heute waren nur neun Roma hier eingetroffen. »Was ist mit den anderen, den Alten, Frauen und Kindern?«, fragte sie besorgt. »Habt ihr sie zurückgelassen?«
»Sie waren mehrere Tagesritte hinter uns«, antwortete Ilai. »Nach dem Überfall habe ich Paulos Bruder Marko zurückgeschickt. Er fängt sie noch vor den walachischen Grenzen ab. Sie werden nach Buda zurückkehren. Auf dem Weg wird er dann Nachrichten für alle anderen hinterlassen. Keiner von uns«, er ballte die Fäuste, »wird mehr durch die Walachei reisen können, solange dort Vlad Drăculea regiert.«
»Warum seid ihr vorausgeritten?«, fragte Veronika neugierig.
Ilai hob den Kopf. Seine Augen glühten wie Kohlen. »Weil meine Mutter es geraten hat. Sie sagte, sie sähe eine Gefahr in den Sternen, sie höre sie im Wind. Und sie hatte recht. Wären wir bei den Alten und Kindern geblieben, wären wir jetzt alle tot oder in Drăculeas Gefangenschaft.« Abrupt stand er auf. »Trinken wir unseren Wein bei Viktor. Ich brauche seinen Rat.«
Viktor hatte eine Kutte übergezogen und saß inzwischen aufrecht auf seinem Lager. Zu Veronikas Erleichterung sah er bereits besser aus als noch vor einer Stunde. Seine Augen blickten klarer, und sie spürte einen Hauch seiner alten Stärke. Die Phuri Dai saß neben ihm, eine ihrer Hände lag auf seinem Arm.
Ilai neigte seinen Kopf. Nicht nur sein Gesicht, sein ganzer Körper drückte tiefe Ehrfurcht vor dem Werwolf aus. »Du hast uns gerettet, Wolfsherr«, sagte er. »Dafür danke ich dir.«
Viktor schüttelte den Kopf. »Es war nicht genug.« Er hob die Hand. »Setzt euch. Und gebt Lia etwas zu essen. Sie hat sich lange genug um mich gekümmert.« Zu ersten Mal hörte Veronika, wie jemand den richtigen Namen der Phuri Dai aussprach. Die Alte lächelte und neigte ihr blindes Gesicht.
Viktor hätte allerdings nicht um sie besorgt sein müssen. Solana war zurückgeblieben, um Essen für ihre Großmutter vorzubereiten, und betrat nun Viktors Kammer, eine tönerne Schüssel mit Hammelfleisch und Brot in den Händen.
Sie ließen sich am Fuße des Lagers nieder. Obwohl Ilai vorhin gesagt hatte, dass er Viktors Rat brauchte, schwieg er nun. Veronika begriff, dass der Roma wartete, bis Viktor wieder das Wort ergriff.
»Berichte mir von Buda«, sagte er schließlich zu Ilai. »Hast du deine Familie dorthin zurückgeschickt?«
Ilai nickte. »Dort sind sie vorerst sicher. Der Stadtrat hat uns freies Aufenthaltsrecht in den Wäldern von Pest gewährt. Der König mag uns zwar nicht, doch der weilt immer noch in Prag.«
In Prag? Veronika richtete sich auf. Von Szolnok aus waren doch Gábor und Miklos dorthin aufgebrochen, um
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