Mondherz
wäre die Wölfin den Türken gefolgt. Sie hatte den Geschmack ihrer beiden Opfer zwischen den Lefzen und gierte nach mehr, gierte nach dem Blut der Feinde, die ihren Rudelführer umgebracht hatten. Unentschlossen war sie auf dem Schotterfeld hin- und hergelaufen, während die Menschen, deren Geruch ihr vertraut war, tote Körper auf Pferde luden und sich schließlich selbst in die Sättel schwangen. Die Rufe der Frau kamen ihr bekannt vor, doch die Laute sagten ihr nichts. Nur das Locken darin vernahm sie, die Furcht und das Drängen. Und sie wusste, etwas verband sie mit dieser Frau, eine tiefe Zuneigung und der Wunsch, sie zu beschützen. So gab sie nach und folgte ihr, fort von dem Schotterfeld und dem Geruch des Kampfes.
Sie folgten verschlungenen Pfaden durch das Gebirge. Die Wölfin roch die Fährten von wilden Ziegen und Rehen, und am Morgen des zweiten Tages entfernte sie sich von den Menschen, um auf die Jagd zu gehen. Als sie am Nachmittag gesättigt und gestärkt zurückkehrte, fand sie die Menschen immer noch an ihrem Nachtlagerplatz vor. Statt weiter zu reiten, hatten sie ihre Toten begraben und über die Gräber Steinhügel angehäuft. Die Frau, welche ihr so viel bedeutete, rannte auf sie zu und legte ihr die Arme um den Hals. Auch wenn die Wölfin ihre Nähe mochte, irritierte sie doch der Druck der Hände auf ihrem Fell, und sie zog sich einige Schritte zurück. Dann strömte ihr ein neuer, feiner Geruch von der Frau entgegen. Verstört zog sie den Schwanz ein. Es war der Geruch von Schmerz, doch nicht der Schmerz des Körpers, und als sie die Frau genauer ansah, sah sie die salzigen Tränen, die ihr über die Wangen rannen.
Sie trauert,
begriff sie, und sie erkannte die Empfindung wieder, sah Viktor, ihre Cousine Elisabeth, sogar Johann Hunyadi, den sie kaum gekannt hatte. Diese Bilder holten sie zurück.
Nackt kauerte sie auf dem Erdboden, ihre Glieder schmerzten von der Verwandlung. Als sie die Hand hob und durch ihr Haar fuhr, war es verfilzt und klamm wie eine alte Wolldecke, die zu lange im Freien gelegen hatte.
»Veronika«, rief Solana und schloss sie fest in die Arme, bevor sie ihr den eigenen Mantel über die Schultern legte. Die Erleichterung ließ ihre Augen glänzen. Oder waren es die Tränen, die sie gerade noch geweint hatte? »Ich dachte schon, du würdest auf ewig in deinem Tierkörper bleiben, Wolfsfrau«, wisperte sie und drückte Veronika wieder an sich. »Du hast uns allen das Leben gerettet, weißt du das?«
Nicht allen.
Veronika schüttelte den Kopf, noch nicht fähig, menschliche Worte zu finden.
»Du zitterst ja«, sagte Solana. »Komm mit ans Feuer.«
Veronika folgte ihr still und nahm dankbar die Kleidungsstücke an, die sie ihr gab. Sie waren ihr zu weit, doch so lange schon hatte sie keine eigenen Kleider mehr gehabt, dass es nicht wichtig war. Sie sah sich um. Die Männer der Roma hatten die Grabhügel inzwischen fertiggestellt. Fünf waren es, und unter jenem, der mit dem größten Steinberg beschwert war, lag Ilai, ihr Familienoberhaupt, der Baro Rom.
Veronika lauschte Paulos Flöte, die wie der einsame Pfiff eines Vogels den Gesängen der Roma folgte. Sie hielt Solanas Hand, die sich wiederum an ihren Ehemann Senando schmiegte.
Veronika fühlte sich kalt und taub und schwer, als läge sie selbst unter Steinen begraben in der Erde. Erst als Senando seine Geige aus einem Beutel zog und in das Lied der Flöte einstimmte, eine ergreifende Weise, durchdringend wie der Schmerz und dunkel wie die Traurigkeit, löste sich etwas in ihrem Inneren. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte, weinte wie Solana um deren Vater, weinte um Viktor, weinte, weil es das Einzige zu sein schien, was sie tun konnte.
»Wir wollen nach Buda reiten«, erklärte ihr Solana am nächsten Morgen. Die Trauer in ihrem Gesicht war finsterer Entschlossenheit gewichen. »Dort werden wir auf unsere Familie und andere Roma treffen. Wir müssen den Tod meines Vaters kundtun, und wir werden Rache schwören. Drăculea wird den Tag bereuen, an dem er sich mit uns angelegt hat.« Sie ballte eine Hand zur Faust, die andere legte sie auf ihren Bauch.
Veronika hörte die dumpfen kleinen Tritte, als ihr Kind strampelte.
Er ist bereits ein kleiner Roma,
dachte sie.
Und er wird ohne Großvater aufwachsen.
»Ich gehe mit euch nach Buda«, sagte sie. Die Stadt, in der sie zur Wölfin geworden war. Sie straffte die Schultern. »Wenn Mathias Hunyadi tatsächlich König geworden ist, werden Gábor
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