Mondherz
entluden und die Tiere zum Grasen führten, kam Gábor zu ihr herüber. Er warf ihr einen Apfel zu. Mit einer geschmeidigen Bewegung, die Veronika an die Eleganz seiner Wolfsgestalt erinnerte, setzte er sich ein Stück von ihr entfernt auf einen umgestürzten Baumstamm.
»Die drei Männer verstehen kein Deutsch«, sagte er und nickte zu den Kriegsknechten hinüber. »Ihr könnt also offen reden.«
Veronika fiel wieder der weiche Akzent auf, der seine Sprache einfärbte. »Ihr seid Ungar?«
»Mit dieser Sprache bin ich aufgewachsen«, antwortete er.
Er wich ihr aus, merkte sie, doch sie erkundigte sich nicht weiter danach. Sie holte tief Luft. »Sagt mir, was es mit dieser Bestie in mir auf sich hat.«
»Ihr seid nun ein neues Wesen, das zwei Seiten in sich vereint«, antwortete Gábor bedächtig. »Das Wolfsblut fließt jetzt ebenso durch Eure Adern wie Euer menschliches Blut.«
»Wie ist das möglich?«, flüsterte sie.
»Das ist ein Mysterium, so alt wie die Menschheit.«
»Aber was macht es mit mir?« Sie stockte. »Ich sehe die Welt anders. Ich rieche und höre Dinge, die ich davor nicht wahrgenommen habe.«
Er nickte. »Das Wolfsblut schärft Eure Sinne. Bald werdet Ihr feststellen, dass Ihr weniger Schlaf braucht. Ihr werdet langsamer altern und nie krank sein. Eure Wunden heilen schneller. Denkt an Miklos’ Biss, nur eine kleine Narbe ist zurückgeblieben.«
Unwillkürlich fuhr Veronikas Hand an ihre Schulter.
»Ihr werdet außerdem über Kräfte verfügen, die so manch erwachsenem Mann überlegen sind«, fuhr Gábor fort.
»Kräfte?« Sie hob den Kopf. Die Vorstellung jagte ihr Angst ein. »Ich bin ein Ungeheuer! Muss ich mich jede Nacht verwandeln?«
»Nicht jede Nacht«, antwortete er. »Ich werde Euch beibringen, es zu kontrollieren. Der Mond wird Euch rufen, doch Ihr werdet lernen, dem Trieb nur alle paar Tage nachzugeben.«
Sie erzitterte. Wenn sie sich alle paar Tage verwandeln musste, konnte sie niemals wieder ein normales Leben führen. Seine Worte kamen ihr vor wie ein Todesurteil. »Gibt es einen Weg, es rückgängig zu machen? Bitte, sagt mir, dass das möglich ist«, flehte sie.
Er schüttelte den Kopf und schwieg.
Sie starrte ihn an, doch keine Regung war seinem Gesicht abzulesen. Sie war ihm völlig gleichgültig. Warum hatte er sie überhaupt mitgenommen? Sie verstand ihn nicht. »Was habt Ihr mit mir vor, Herr Gábor?«
»Ich bringe Euch in der Gefolgschaft der Hunyadis in Belgrad unter.«
»Was soll ich da?«, rief sie gequält. »Ich will zurück zu meiner Familie!«
»Das geht nicht. Ihr seid jetzt eine andere, das wisst Ihr.«
»Ihr müsst mich zurückbringen! Oder meine Familie wird nach mir suchen und Euch als Teufelsdiener auf den Scheiterhaufen bringen!«
»Das wird nicht passieren.« In seinem Ton schwang eine ruhige Endgültigkeit mit. »Sie halten Euch für tot.«
Das traf sie wie ein Peitschenhieb. Sie flüsterte: »Das kann nicht sein.« Ihre Schultern krampften sich zusammen. »Das dürfen sie nicht glauben.« Verzweifelte Tränen stiegen in ihre Augen, doch ihre Gedanken fanden noch einen Strohhalm, an den sie sich klammern konnte. »Mein Onkel kennt die Wahrheit über Euch. Ihn könnt Ihr nicht täuschen!«
Gábor schwieg für einen Moment. Sie wischte sich über die Augen und hielt den Atem an. Hatte sie eine Schwachstelle in seinen Lügen entdeckt? Reichte die Macht des Namens Cilli vielleicht schon aus, um sie wieder nach Hause zu bringen?
»Er ließ sich nur zu gerne täuschen«, sagte er schließlich. »Ulrich Cilli weiß von meinem Dienstherr Hunyadi, dass Ihr gebissen wurdet. Euer angeblicher Tod war eine Erleichterung für ihn.«
Ihre Hoffnung wich jähem Entsetzen. »Ihr lügt, das würde er nie so empfinden!«
»Ihr scheint ihn nicht allzu gut zu kennen.« In seiner Miene regte sich nichts, als er dies sagte. »Ihr seid für ihn nicht mehr von Nutzen, Ihr wärt sogar eine Gefahr für ihn. Wenn er jemals erfährt, dass Ihr noch lebt und jetzt eine von uns seid, wird er Euch umbringen lassen. Es ist zu Eurem eigenen Schutz, dass Ihr ihn und den Rest Eurer Familie nie mehr wieder sehen werdet.«
Der Apfel rollte vergessen aus Veronikas tauben Fingern. Wenn Gábor recht hatte mit dem, was er sagte, dann war sie niemand mehr, und es gab nichts, an dem sie sich festhalten konnte. Es stimmte, ihr Onkel war nicht der Mann, für den sie ihn gehalten hatte. Er hatte ohne Zögern den Tod seines eigenen Beichtvaters bewilligt. Wahrscheinlich war es ihm
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