Mondherz
nickte. Er nahm das erste Steinchen, das er aus dem Mauerwerk gekratzt hatte, und warf es hinunter. Es brauchte fünf weitere, ehe sie sahen, dass sich im Schatten vor den Ställen etwas regte.
»Das ist er!«, flüsterte Miklos und gab ihm das Holzstück.
Gábor kniff die Augen zusammen, dann warf er ihre geschnitzte Botschaft, die unweit der Gestalt ins Gras fiel. Sie beobachteten, wie Marko sich danach bückte und dann wieder in den Stall zurückging. Jetzt konnten sie nur noch warten.
Es dauerte eine Stunde, bis jemand leise an ihrer Tür scharrte. Wenig später standen sie draußen auf dem dunklen Gang. Gábor nickte Marko zu, der Paulo so ähnlich wie ein Zwillingsbruder sah. Der schwarzhaarige Roma starrte ihn nur an. Doch sie hatten keine Zeit, unnötige Worte zu verlieren.
»Folgt mir«, flüsterte Miklos, der sich im Gebäude am besten auskannte. Er führte sie durch die grob behauenen Gänge der Festung zu einer kleinen Pforte, die auf den hinteren Teil eines Innenhofs hinausführte. Dann deutete er auf einen dunklen Eingang ihnen gegenüber, einen Steinwurf entfernt. Sein Mund formte lautlose Worte. Ein weiterer Zugang zum Kerker.
Er sah sich sorgsam um, dann wollte er auf den Hof treten, doch Gábor hielt ihn am Ärmel fest. Sein Wolf riet ihm, stehen zu bleiben. Er lauschte. Aus den Räumen über ihnen drang das Schnarchen von Männern. Der Wind pfiff ein hohles Lied auf den Dachziegeln, und in der Luft lag der modrige Geruch des Sumpfs. Wo war Pavel?
Noch ehe er die Frage laut aussprach, sahen sie ihn. Zusammen mit einem weiteren Werwolf trat er aus dem Eingang hervor. Sein eisengraues Haar sah im Mondlicht silbrig aus. Er schien innezuhalten, und fast meinte Gábor seine gelben Augen aufblitzen zu sehen. Er hielt den Atem an. Dann wandte Pavel sich ab und verließ den Innenhof durch das Tor, das in die Stadt hinunter führte. Ging er erneut auf die Jagd? Gábor konnte nur hoffen, dass der Älteste seinen Blutdurst noch nicht an Arpad gestillt hatte.
Sie ließen noch zwanzig Herzschläge verstreichen, dann eilten sie über den Hof.
»Besorg uns Pferde«, raunte Gábor Marko zu. Auf seinen fragenden Blick hin ergänzte er: »Vier.«
Während der Roma zu den Ställen lief, spürte Gábor Miklos’ Augen auf sich. »Ich habe noch nicht entschieden, ob wir Arpad mitnehmen«, brummte er. Doch wenn er noch lebte, hatten sie kaum eine andere Wahl.
Die feuchtkalte Luft des Kerkers umfing sie wie ein alter Bekannter. Durch die Gewölbe eilten sie an den Zellen vorbei, bis sie bei Arpad ankamen.
Scharf zog Gábor die Luft ein. Blut, es roch nach viel zu viel Blut.
»Wir sind zu spät.« Miklos seufzte, als er auf Arpads gebrochenen Körper herabblickte.
Gábor ging auf die Knie. Er legte seine Finger an Arpads Kehle. »Er lebt noch. Aber nicht mehr lange.«
Der Türke war bewusstlos, und mit jedem flachen Atemzug schien das Leben mehr aus ihm herauszuströmen.
Gábor wandte sich ab. »Von ihm erfahren wir nichts mehr.« Er schüttelte den Kopf. Sein Ritt nach Isaccea war umsonst gewesen. Veronikas Opfer war umsonst gewesen.
»Nein.« Miklos packte ihn am Arm. »Es gibt noch eine Möglichkeit.« Seine blauen Augen bohrten sich beschwörend in die dunklen von Gábor. »Du musst ihn beißen.«
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34 . Kapitel
Buda, Juli 1458
V eronika blieb im Schatten einer Hauswand stehen. Obwohl ihre Lunge schier platzte, hielt sie den Atem an und lauschte. Außer dem Poltern ihres Herzens hörte sie nichts.
Sie war kreuz und quer durch Gassen gelaufen, die sie selbst kaum kannte, und nur der Instinkt ihrer Wölfin hatte sie geführt. Es erschien ihr fast zu einfach, dass sie ihre Verfolger abgeschüttelt haben sollte, als wären die beiden Werwölfe blind und taub wie Menschen.
Rasch machte sie sich zu Michael Szilagyis Haus auf. Sie war ohnehin schon in der Nähe, sogar so nah, dass sie während der Flucht Licht aus einer der Luken der Turmstube hatte blitzen sehen. Nur Michael konnte sich dort aufhalten. Als sie den Platz erreichte und zur Eingangspforte trat, überlegte sie, wie er auf ihren späten Besuch reagieren mochte. Sie hatte sein Haus vor Wochen im Streit verlassen. Dann war sie zum König gezogen, der sich kurz darauf von seinem Onkel distanzierte. Seitdem hatte sie mit Michael nicht mehr gesprochen. Trotz allem, was vorgefallen war, hatte sie Mitleid mit ihm verspürt. Wenn er die Unterstützung des Königs nicht zurückgewann, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ihn der
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