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Mondherz

Mondherz

Titel: Mondherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Spies
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böse, das wusste sie inzwischen. Aber vielleicht war es ihm damals in der Kapelle ähnlich ergangen wie ihr soeben. Wenn es so war, hatte sie kein Recht, Miklos für das zu hassen, was er getan hatte. Er musste Schreckliches erlebt haben, um die Kirche und all ihre Vertreter so zu verabscheuen. Sie krampfte ihre Hände ineinander. Sie wusste nichts über ihn, und auch Gábor kannte sie nicht. Einsamkeit überfiel sie plötzlich, ein kaltes, herbes Gefühl, das ihre Laune verdarb.
    Gábor starrte sie weiterhin an, und seine Miene war leblos wie Stein. »Trinkt einen Mundvoll Wein, ihr beide.« Er reichte ihnen die Becher, wartete stumm. »Seid ihr nun wieder fähig, dem Unterricht zu folgen?«
    Sie nahm einen tiefen Schluck. Mit dem Fortfahren des Unterrichts wollte Gábor doch nur jedes Gespräch über das Vorgefallene vermeiden. Bitter rann der Wein ihre Kehle hinunter. Erst als ihr Magen sich verkrampfte, setzte sie den Becher wieder ab.
    »Gut«, sagte Gábor. Seine Miene war immer noch undurchdringlich. »Wir waren bei der Geschichte der Ungarn stehengeblieben. Wie lange dauerte es wohl, bis die wilde Horde sesshaft wurde? Miklos, weißt du es?«
    Der Junge schüttelte wortlos den Kopf.
    »Es dauerte viele hundert Jahre«, beantwortete Gábor seine Frage selbst. »Erst das Geschlecht der Arpaden einte die ungarischen Stämme zu einem Volk und beendete die Wanderungen. Aus diesem Geschlecht stammt Stephan, der erste gekrönte König der Ungarn. Kennt Ihr ihn, Veronika?«
    Sie nickte widerwillig. »Der heilige Stephan brachte vor fünfhundert Jahren das Christentum nach Ungarn«, murmelte sie.
    Gábor nickte. »Darüber hinaus befriedete er das Land und schloss zahlreiche Bündnisse, die sein Reich stärkten und gedeihen ließen. Mit der geweihten Stephanskrone werden bis heute alle ungarischen Könige gekrönt.« Er hielt kurz inne und musterte seine beiden Zuhörer, wie um zu prüfen, ob sie aufmerksam genug lauschten. »Stephan war der erste Ungar, dem der Wolfsbund diente.«
    »Damals schon?«, fragte Veronika. Gegen ihren Willen war sie überrascht.
    »Der Bund bestand zu Stephans Zeiten bereits seit zweihundert Jahren«, antwortete Gábor. »Die Werwölfe sahen die Notwendigkeit, Ungarn endlich zu befrieden. Sie schickten ein Rudel hierher, das sich Stephan offenbarte. Erst zögerte er, heißt es, denn wie so viele andere Menschen hielt er uns für Teufelswesen. Doch er war klug und erkannte bald, dass der Bund den gleichen Zielen diente wie er. Sie schlossen ein Bündnis, das so stark war, dass die ungarischen Werwölfe seiner Familie, dem Geschlecht der Arpaden, noch viele hundert Jahre dienten.« Er hob eine Pergamentrolle vom Tisch und entrollte sie. Ein Stammbaum war darauf gezeichnet, so fein und akkurat, dass Veronika vor Ehrfurcht den Atem anhielt. Vorsichtig hielt sie eine Ecke des Pergaments fest, während Gábor ihnen über die längst vergangenen Könige berichtete, deren Namen darauf geschrieben waren.
    »Die Arpaden regierten mit unserer Hilfe noch bis zum Jahr 1301 das Land«, fuhr er fort. »Dann starb der letzte von ihnen, König Andreas der Dritte. Die Herrscher nach ihm waren Fremde. Sie regierten das Land von Böhmen oder sogar von Luxemburg aus und machten es zum Spielball verschiedenster Interessen. Keiner konnte sich mehr mit dem Ruhm der Arpaden messen, und so ist es bis heute geblieben.«
    Miklos runzelte die Stirn. »Diente der Wolfsbund ihnen auch?«
    »Nein.« Gábor schüttelte den Kopf. »Die meisten dieser Könige waren so schwach, dass die ungarischen Fürsten mehr Einfluss hatten als sie. So viel Einfluss, dass sie schließlich durchsetzten, ihren König in der Ständeversammlung selbst zu wählen. Seitdem hüten sie sich tunlichst, wieder einen starken Mann über sich zu setzen. Johann Hunyadi ist der erste ungarische Graf seit mehr als hundert Jahren, den wir unterstützen.«
    »Meint Ihr damit, Ihr wollt ihn zum nächsten König machen?«, hakte Veronika nach.
    Gábor starrte sie an, seine Augenbrauen überrascht in die Höhe gezogen. »Ihr dürft unsere Aufgabe nicht falsch verstehen«, sagte er langsam. »Wir sind nicht so vermessen, aufgrund unserer eigenen Interessen jemanden zum König zu erheben. Wem Gott dieses Schicksal zugedacht hat, der wird diesen Weg gehen, mit oder ohne unsere Hilfe. Johann Hunyadi bedeutet ein Königsthron wenig. Er hat sich ganz dem Kampf gegen die Türken verschrieben, und diese Aufgabe ist vielleicht sogar schwerer als das Regieren eines

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