Mondherz
von besonderer Schönheit, wenn dieser aufmerksame und ernste Ausdruck darauf lag, wie ein Antlitz auf einem alten Kirchengemälde.
Ihr wurde klar, dass nur ein Wimpernschlag verstrichen war, und doch hatte er sie verändert. Gábor und sie bildeten ein Rudel, hatte ihr die Wölfin gesagt. War es dies, was sie zu ihm hinzog, das verwischte, was er ihr angetan hatte? Auch Miklos gehörte dazu, obwohl sie ihn kaum kannte, und natürlich Michael. Das zweigestaltige Blut trennte sie ohne Umkehr von allen anderen Lebewesen, doch ihresgleichen fügte es zusammen.
»Ich möchte alles lernen, was Ihr mir beibringen könnt«, sagte sie. Sie deutete auf den Stapel Dokumente auf ihrem Schoß. »Selbst wenn das bedeutet, dass ich diese Vorratslisten lesen muss.«
Er nickte. Seine dunklen Augen schienen zu tanzen. »Gut. Ich werde Euch viel zu erzählen haben.«
Veronikas Tage waren von nun an mit dem Lernstoff, den Gábor ihr zuteilte, prall gefüllt. Mühsam las sie die Listen und Urkunden, die er ihr gegeben hatte. Die meisten Texte waren in Latein abgefasst, einer Sprache, in der sich ihr Wissen bis jetzt auf Bibelzitate und die wenige geistliche Lektüre beschränkte, die sie ihr Beichtvater Anton bei den Cillis hatte lesen lassen. Miklos, so stellte sich heraus, sprach dagegen Latein mit einer Leichtigkeit, die ihn vor langer Zeit gelehrt worden war. Sein besonderes Talent entfaltete sich jedoch beim Schreiben. Seine klobigen Finger umfassten die Schreibfeder so vorsichtig, als wäre sie noch lebendig, und stets brachte er zu den Unterrichtsstunden sein eigenes Fässlein mit Dornrindentinte mit. Veronika bewunderte die sauber geschwungenen Worte, die mit verwirrender Geschwindigkeit aus seiner Feder flossen. Einmal dachte sie, dass seine Schriftzüge so fein und akkurat waren, wie es seine zerstörten Gesichtszüge niemals mehr sein würden. Durch seine jahrelangen Reisen mit Gábor fiel es ihm auch leichter als ihr, die Winkelzüge der Politik zu verstehen. Die Vertrautheit, die sie zwischen Gábor und ihm spürte, gab ihr manchmal das Gefühl, von etwas Kostbarem ausgeschlossen zu sein. Gleichzeitig bewunderte sie jedoch sein Wissen, und damit ging einher, dass sie widerwillig begann, ihn zu mögen. Den Menschen gegenüber verhielt Miklos sich oft unbeholfen und wortkarg, und Veronikas Wortgewandtheit übertraf die seine bei weitem, doch hinter seiner narbigen Stirn verbarg sich ein lebhafter Verstand. Er schien jedoch nicht stolz darauf zu sein, er wollte einzig Gábor damit gefallen. Wie sie auch, das war ihr bewusst. Wenn Gábor sie lobte, durchströmte sie ein warmes Gefühl. Manchmal ertappte sie ihn dabei, dass er sie ansah, und sein nachdenklicher Blick erinnerte sie in solchen Momenten an ihre erste Begegnung auf Elisabeths Hochzeit. Es war ein Blick, als wüsste er etwas über sie, was ihr selbst noch verborgen war, und dies ließ ihr Herz stets schneller schlagen. Er faszinierte sie und wühlte zugleich ihre Gefühle auf. Dafür zürnte sie ihm bisweilen, doch sie konnte nichts daran ändern.
Miklos’ Zuneigung zu seinem Lehrer war dagegen rückhaltlos. Mehr als einmal fragte sie sich, was Gábor für Miklos getan hatte, um solch eine Verehrung zu verdienen. Zu gerne hätte sie die Frage laut gestellt, ebenso wie sie oft an Gábors türkisches Blut denken musste. Zu gerne wollte sie wissen, wer er wirklich war. Doch nie sprach er von seiner Vergangenheit und fragte sie auch nicht nach der ihren.
Stattdessen brachte er ihr eine neue Schrift bei: die Geheimschrift des Wolfsbunds. Es waren sonderbare Schriftzeichen, kantiger und älter als die Buchstaben, die sie kannte, und er nannte sie
Farkaf Betük,
die Zeichen der Wölfe. Damit könnten sie sich Briefe schreiben, die kein anderer zu entziffern vermochte, erklärte er ihr, in Zeiten, da sie nicht zusammen sein konnten. Verbissen übte sie die Schrift, die Miklos schon kannte, und selbst in den Nachtstunden schrieb sie Seite um Seite im Licht einer Kerze.
In einer anderen Woche studierten sie alle drei gemeinsam die ungarische Geschichte. Sie verfolgten die Spuren dieses Volkes zurück zu den einfachen Steppenreitern, die sie einst gewesen waren.
»Wisst Ihr, dass die Ungarn und die Hunnen dem gleichen Geschlecht entstammen?«, fragte Gábor seine beiden Schüler. Sie beugten sich über eine Karte, welche die Grenzen der alten ungarischen Reiche nachzeichnete. »Es gibt eine Überlieferung, die davon berichtet.«
Aufmerksam lauschten Veronika und
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