Mondherz
Bauernkarren und hat eisenbeschlagene Räder. Seine Bauart lässt vermuten, dass er aus den südlichen Alpen stammt. Italien vielleicht? Die Knechte scheinen den Fuhrmann nicht zu kennen, und er scheint ihre Sprache nicht zu sprechen. Doch er zählt die Ware genau, die sie einladen.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich denke, er hat aus den südlichen Bergwerken Eisenerz für die Waffenschmiede gebracht. Er ist allerdings nur der Geselle. Sein Herr wartet bestimmt im Warmen, bis die Ladung für die Rückfahrt vollständig ist.« Er grinste. »Seht, da kommt er schon!«
Veronika beugte sich hinaus. Ein rundlicher Mann in einem pelzgesäumten Mantel eilte aus dem Küchengebäude auf den Wagen zu. Laute Worte flogen zwischen ihm und seinem Gesellen hin und her, die auch in Veronikas Ohren nach Italienisch klangen. Verdutzt schüttelte sie den Kopf. »Wie konntet Ihr das nur alles wissen?«
Ihre Bewunderung war aufrichtig, und sie zögerte nicht zuzugeben, dass sich Miklos bei dieser Prüfung viel fähiger erwiesen hatte als sie.
»Versteht Ihr jetzt, warum es hilfreich ist, nicht nur Eure Sinne einzusetzen, sondern das Beobachtete auch zu begreifen?«, sagte Gábor. Er legte eine Hand auf Miklos’ Schulter und lächelte ihn an. Miklos grinste zurück, seine Augen leuchteten stolz in dem verwüsteten Gesicht. Jäh spürte Veronika Ärger in sich aufsteigen. Sie biss sich auf die Lippen. Sie war doch nicht etwa eifersüchtig? Hastig senkte sie den Blick, damit Gábor nichts in ihren Augen lesen konnte. Er schien trotzdem etwas gemerkt zu haben, denn beiläufig nahm er die Hand von Miklos’ Schulter.
Kurz schwiegen sie, dann schluckte Veronika ihren Groll hinunter und wandte sich an Miklos. »Wie lange bist du schon bei Gábor?«, fragte sie, bemüht, ehrliches Interesse zu zeigen.
Doch er schien wieder in seine Wortkargheit zurückgefallen zu sein. Er zuckte nur mit den Achseln.
»Fünf Jahre«, antwortete Gábor stattdessen.
»So lange?« Sie wunderte sich. Miklos konnte doch nur ein, zwei Jahre älter als sie sein. »Dann warst du ja noch ein halbes Kind, als du zum Werwolf wurdest!«
Miklos runzelte die Stirn. »Ich war fünfzehn Jahre alt.«
»Ich erzählte Euch doch einmal, dass Werwölfe widerstandsfähiger sind als Menschen, erinnert Ihr Euch?«, mischte Gábor sich ein. »Damit geht einher, dass wir auch etwas langsamer altern. Ich selbst wurde bereits vor sechzehn Jahren zum Werwolf.«
Sie riss ungläubig die Augen auf. »Wie alt seid Ihr?«
»Einunddreißig Jahre.«
Er lachte auf, als er ihr entgeistertes Gesicht sah, und ihr wurde bewusst, wie selten er dies tat. Das Lachen ließ ihn spitzbübisch und weniger einschüchternd erscheinen, fast als hätte sich ein Knabe in dem Mann versteckt, der nun hervorlinste.
»Einunddreißig?«, kicherte sie. »Ihr seht mindestens fünf Jahre jünger aus.«
»Vielen Dank.« Er blinzelte ihr zu, und sie fühlte etwas in ihrer Brust flattern, einen Schmetterling, der sie kitzelte und ihr Lachen in etwas noch Schöneres verwandelte.
»Noch kennt Ihr meinen Lehrer Viktor nicht«, fuhr Gábor fort. »Er ist ein alter Mann, doch keiner würde vermuten, dass er seit beinahe hundert Jahren unter uns weilt. Ihr werdet es selbst feststellen, wenn die Menschen anfangen, über Eure nahezu unvergängliche Schönheit zu tuscheln.« Er musterte sie, und sein Lächeln wich sanftem Ernst. »Noch mögt Ihr erst siebzehn Jahre zählen, Veronika, doch die Zeit vergeht schneller, als Ihr glaubt.«
Zweifelnd zog sie die Augenbrauen hoch, doch sein Blick hielt sie fest. Nur seine Augen sprachen noch von dem soeben verebbten Lachen, ein feiner Nachhall, der das Dunkel aufhellte und in ein warmes Kastanienbraun verwandelte.
Sie tauchte darin ein wie in einen Brunnen, in dessen Oberfläche sich ihr Antlitz spiegelte. Seltsam vertraut erschien es ihr dort, und dahinter verbarg sich etwas, das sie im Innersten ansprach und gleichzeitig aufwühlte: eine uralte Wildheit, die noch von keiner Zivilisation gezähmt worden war. Sie erbebte, denn sie erkannte sich selbst darin wieder, ihre eigene wölfische Seele, die Gábors Geist so freudig begrüßte wie einen Bruder.
Wir sind ein Rudel,
rief die Wölfin in ihr.
Und dies ist erst der Anfang unserer Bestimmung.
Sie fuhr zurück, und die Stimme verstummte. Hatte Gábor sie auch gehört? Oder waren es nur ihre eigenen, verworrenen Gedanken gewesen? Immer noch sah er sie unverwandt an, wartete darauf, dass sie etwas sagte. Sein Gesicht war
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