Mondherz
Miklos, als er ihnen die Geschichte schilderte. Die Zwillingsbrüder Hunor und Magor, Ururenkel des biblischen Noah, waren berühmte Jäger gewesen, berichtete er, geschickter im Umgang mit dem Bogen als jeder andere Sterbliche. Bei einem ihrer Ausflüge stöberten sie einst einen weißen Hirsch auf und folgten ihm bis ans Schwarze Meer, in dem er mit einem mächtigen Sprung verschwand. Enttäuscht wollten sie umkehren, doch da hörten sie Gesang und fanden zwei Mädchen, die Töchter des Alanen-Herrschers Dula. Von ihrer Schönheit betört, beschlossen sie zu bleiben, und sie nahmen die beiden Mädchen zur Frau.
»Hunors Söhne, die bald darauf geboren wurden, wurden Hunnen genannt, und von dem ältesten stammt in direkter Linie der Kriegerfürst Attila ab«, fuhr Gábor fort. »Magor begründete dagegen das Geschlecht der Magyaren, deren Name ursprünglich Männer der Erde bedeutet, und so nennen sich die Ungarn bis heute.«
Fasziniert war Veronika seinen Worten gefolgt, und nun hob sie den Kopf, eine Frage auf den Lippen. »Ist dies nur eine Sage oder eine wahre Begebenheit?«
»Gut, dass Euch der Unterschied wichtig ist.« Gábor nickte ihr zu. »Doch was bedeutet Wahrheit? Was wir wissen oder was wir glauben zu wissen? Kann eine Geschichte nicht dadurch wahr werden, dass ein Volk sie glaubt?«
Veronika sann über seine Worte nach, gebannt von der Gelehrtheit, die daraus sprach.
»Wer nichts weiß, muss alles glauben«, sagte Miklos plötzlich. »Und deshalb glauben die Leute, dass die päpstliche Kirche von Gott selbst eingesetzt worden ist. Schließlich sagt sie es selbst von sich, und jeder, der widerspricht, wird von ihr verfolgt. Wird deshalb ein Glaube aus Angst zur Wahrheit? Ich bezweifle es.«
Entsetzt starrte Veronika ihn an. Sie bekreuzigte sich. Was er gesagt hatte, war so ketzerisch, dass sie hoffte, sich verhört zu haben. Doch sie sah den Hass, der in seinem verwüsteten Gesicht aufgeflammt war wie eine Feuersbrunst. Sie war so überrascht, dass sie seiner Wut nichts entgegenzusetzen hatte. Ihr eigenes Herz pochte ungestümer, gebunden an das gemeinsame Blut, das mit einstimmen wollte in die Wut des Wolfsbruders. Sie hielt den Atem an, verschränkte die Arme, um der Wucht der Gefühle standzuhalten. Was war nur in ihn gefahren? Ohne es zu merken, sprach sie diesen Gedanken laut aus.
Miklos starrte sie an. Seine Augen verfärbten sich dunkel, als sein Wolf nach vorne drängte. »Dir fällt es leicht, das zu fragen. Du bist behütet aufgewachsen und hast nie erlebt, was die Kirchenmänner jenen antun können, von denen sie sich bedroht fühlen.« Seine Aggression schwappte durch den Raum. »Trauerst du immer noch deinem Pater hinterher? Er hätte dich ohne zu zögern zum Tode verurteilt, wenn er gewusst hätte, was aus dir wird!«
Sie keuchte auf. Wie ein Räuber aus dem Hinterhalt fiel sie die Erinnerung daran an, wie sie Miklos das erste Mal begegnet war. Die Kapelle, seine feindseligen Worte zu Pater Anton, der Mord. Beinah wäre sie damals selbst Opfer seines Hasses geworden. Die Wölfin in ihr jaulte auf, die Muskeln wie Bogensehnen gespannt. Sie sprang auf. Ein Knurren kam aus ihrer Kehle, tief und bitter, gegen den eigenen Blutsbruder gerichtet.
Jemand packte sie am Arm und zog sie mit Gewalt auf ihren Platz zurück.
»Veronika, haltet Euch zurück!« Gábors Stimme schnitt scharf durch ihre Gedanken. Sie knurrte erbost, dann verwirrt, und der rote Schleier vor ihren Augen lichtete sich. Die Wölfin zog sich zurück.
»Miklos, ich möchte von dir solche Äußerungen nicht mehr hören.« Gábors Stimme war dunkel vor Ärger. »Du kaust auf der Vergangenheit herum wie auf einem alten Knochen. Spuck ihn aus, bevor dich sein bitterer Geschmack vergiftet.« Er schnaubte. »Veronika, ich dachte, Ihr hättet Euch besser unter Kontrolle.«
Sie schüttelte den Kopf, doch die Härte in Gábors Augen ließ sie den Mund schließen und schweigen. Er wollte nicht, dass sie weiter darüber sprach. Sie las noch mehr in seinem Blick: Tadel, wie sie ihre Disziplin so hatte vergessen können.
Miklos dagegen war bleich geworden. Seine Augen waren nun wieder hellblau wie der Sommerhimmel und er senkte den Blick, als ob er sich schämte.
Ihre Wut wich Verwirrung. Sie atmete tief ein. Dann stockte ihr Atem, als ihr ein neuer Gedanke kam. Was würde sie selbst tun, wenn ihre Wut und die Wölfin sie überwältigten? Was wäre passiert, wenn Gabor sie eben nicht zur Ordnung gerufen hätte? Miklos war nicht
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