Mondmädchen
Ein Erinnerungsfetzen schoss mir durch den Kopf: Der Soldat hatte gesagt, es wäre eine Frau aus Caesars Haus gewesen, die unsere Hinrichtung angeordnet hatte. Ich hatte gedacht, dass er nur Livia damit gemeint haben könnte. »Aber du hast doch meiner Mutter geschworen, dass du für unsere Sicherheit sorgen würdest!«
Sie lachte laut auf. »Niemals! Ich wollte euch tot sehen.«
»Das war ich, Selene«, sagte Livia. »Ich bin diejenige, die geschworen hat, euch zu beschützen.«
Ich sah sie an. »Aber Mutter sagte, sie hätte einen Schwur von Octavia erhalten …«
Livia wirkte erregt, ihr Gesicht war gerötet. »Ich habe nicht gedacht, dass deine Mutter mir, der Frau ihres Bezwingers, glauben würde. Aber Octavias Ruf als großherzige Wohltäterin war ihr bekannt. Deswegen schien es mir damals das Beste zu sein.«
Wir hatten es also Livia zu verdanken, dass wir noch am Leben waren. Dabei hatten wir die ganze Zeit geglaubt, es wäre die »liebevolle«, liebreizende Octavia gewesen, die uns vor allem bewahrt hatte.
»Du hast das geschwärzte Herz von Seth, dem Bösen«, fuhr ich Octavia auf Ägyptisch an und machte das Zeichen zum Schutz gegen das Böse. Ihre Augen flackerten furchtsam. Ich wandte mich von ihr ab und blickte Livia ins Gesicht. »Alexandros … Bitte, du musst ihm helfen.«
»Ich weiß einiges über Kräuter. Ich werde mich mit dem Medicus beraten«, sagte sie, kam rasch auf mich zu und führte mich aus ihrem Tablinum .
Ich schaute noch ein letztes Mal zurück in die irren, triumphierenden Augen der Frau, die von ganz Rom als Beispiel von Frömmigkeit, Güte und Tugend verehrt wurde.
Trotz der Vergiftung bestand Livia darauf, dass wir wie geplant noch am selben Nachmittag nach Ostia aufbrechen sollten.
»Du kannst doch nicht erwarten, dass wir Alexandros in diesem Zustand bewegen!«, protestierte ich, als sie mich im Krankenzimmer aufsuchte. Der Atem meines Zwillingsbruders ging schwer, seine Lippen waren fast weiß, sein Körper war von einer dünnen Schicht kalten Schweißes bedeckt.
Livia sah blass und mitgenommen aus. »Ich kann hier nicht für eure Sicherheit garantieren, verstehst du?«
»Aber …«
»Ich werde euch den besten Helfer schicken, den unser Medicus hat, damit der sich um Alexandros kümmern kann. Der Medicus hat das Gift bereits ausgeleitet und Alexandros die Kräuter gegeben, von denen er denkt, dass sie helfen. Jetzt kann man ohnehin nur noch abwarten …«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wir wurden aus Rom vertrieben wie Aussätzige. Ich setzte mich neben Alexandros, drückte meine Stirn an seine Schulter und schloss verzagt die Augen. Warum geschah dies alles?
»Es tut mir leid, Selene«, sagte Livia. Und zu meiner Überraschung glaubte ich ihr sogar. Ich glaubte, dass sie nicht gewollt hatte, dass es so enden würde.
Die Reise nach Ostia war langwierig und mühsam. Ich wollte nicht von der Seite meines Bruders weichen, und so saß ich neben ihm auf einem Ochsenkarren, in dem normalerweise Salatköpfe transportiert wurden. Alexandros verlor immer wieder das Bewusstsein und schien seine Umgebung nicht wahrzunehmen, nicht einmal, als er am Tiber auf einen Flusskahn getragen wurde. Ich wachte über ihm und hielt dabei den hinter meinem breiten Gürtel versteckten Dolch – Mutters Dolch – umklammert, als könnte ich irgendwie das Gift aus ihm herausschneiden.
Im Hafen von Ostia hielt uns der Kapitän des Transportschiffes an, als er sah, wie die Diener Alexandros auf einer Krankentrage an Bord bringen wollten. »Nein. Auf keinen Fall«, rief er. »Wir können niemanden an Bord nehmen, der so krank ist. Das ist ein schlechtes Omen.«
Ich war zu müde, um zu antworten. Der Helfer des Medicus reichte ihm eine Schriftrolle mit Livias Siegel. Das sonnengegerbte Gesicht des Kapitäns wurde blass, als er den Brief las. Keiner wagte es, sich den Anweisungen von Octavians Ehefrau zu widersetzen. Er ließ uns an Bord, wobei er die ganze Zeit vor sich hin schimpfte und fluchte.
Ich stieg mit Alexandros in den Bauch des Schiffes hinab bis zu einem kleinen Raum, der normalerweise als Lagerraum diente. Der Kapitän wollte uns nicht an Deck haben, wo sich all seine Männer und die Passagiere aufhielten und schliefen, weil er fürchtete, dass Alexandros’ Zustand die Leute ängstigen würde. Trotz der Hitze und der Dunkelheit war ich dankbar, dass wir hier für uns sein konnten.
Ich schickte Zosima und den Helfer des Medicus an Deck. Ich wollte alleine sein und für
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