Mondmädchen
das Leben meines Bruders beten.
Das Schiff schwankte und knarrte, während die Seeleute sich Anweisungen zuriefen und dicke Taue auf das Deck warfen. Die Rudertrommel hob an, langsam und dumpf wie der Herzschlag eines sterbenden Ungeheuers. Andere Geräusche kamen dazu: das Getrappel von Füßen, als die Seeleute auf ihre Plätze eilten. Das rhythmische Klatschen der langen Reihe von Rudern im Einklang. Die spitzen Schreie der Möwen, die nach Essbarem Ausschau hielten.
Erst als ich den Lärm des Hafens von Ostia nicht mehr hören konnte, entspannte ich mich.
»Wir haben es geschafft, Bruder«, flüsterte ich. »Endlich haben wir Rom hinter uns gelassen.«
Aber er war mir bereits entglitten, sein Ka war schon auf dem Weg, sich mit Ptoli und dem Rest unserer Familie zu vereinen.
Ich konnte ihn nur noch halten, während ich weinte, wieder einmal verloren in einem Meer von Trauer.
~ Kapitel 47 ~
An Bord eines römischen Schiffes auf dem Weg nach Afrika
In dem Jahr, welches das 26. Jahr
der Regentschaft meiner Mutter gewesen wäre
Noch immer in meinem 16. Jahr
25 v.d.Z.
Ich starrte auf das wirbelnde Wasser hinab, das meinen Bruder verschlungen hatte.
»Komm«, sagte Zosima. »Lass uns wieder nach unten gehen, da ist es sicherer.«
Aber ich wollte, ich konnte noch nicht fort. Meine Hände hielten die Bordwand des Schiffes umklammert. Im Namen des Anubis flehte ich Poseidon an, seinen eingehüllten Körper zu bewahren, sodass Osiris ihn im Jenseits erkennen würde. Damit Alexandros’ Ka wusste, wo es sich niederlassen sollte. Damit ich ihn wiedersehen würde. Ich betete viele Stunden, dass Anubis diesen Sohn Ägyptens bewahren möge.
Die Zeit verging und Zosima hatte ein Tuch über meinem Kopf gespannt, um mich vor der unbarmherzigen Sonne zu schützen. Die römischen Seeleute mieden mich weiterhin ängstlich.
»Die Hexe hat sich selbst verhext!«, flüsterte jemand im Vorbeigehen. »Deswegen bewegt sie sich nicht!«
Das Gleißen und Glitzern der Sonne auf dem Wasser blendete mich, aber ich wollte geblendet werden. Ich wollte nichts sehen, nichts hören und nichts fühlen. Zosima versuchte mich dazu zu bringen, Wasser oder Wein zu trinken, etwas zu essen oder wieder nach unten zu gehen. Irgendwas. Etwas. Ich hörte ihr Flüstern und ihre Bitten und Versuche, mich abzulenken, als wäre sie eine Stechmücke, deren Sirren zeitweilig zu hören war und dann wieder nicht.
Was war, wenn Juba die ganze Zeit recht gehabt hatte? Hätte ich aufhören sollen zu kämpfen und eine Stoikerin wie er werden sollen – die gelassen das Unglück annahm, das die Götter ihr zugedacht hatten? Wenn ich nicht versucht hätte, mich mit Marcellus zu verbinden, wäre Alexandros dann noch hier bei mir? Aber dann verwirrten sich meine Gedanken. Juba hatte letztlich doch gehandelt – und nun herrschte er in Numidien. Welche Ironie! Er hatte Numidien zurückbekommen, obwohl es ihn nie danach verlangt hatte. Und ich würde einsam und verlassen in der mauretanischen Wüste sterben.
Den ganzen Tag blieb ich so stehen und hielt Wache für meinen verlorenen Zwillingsbruder. Der Himmel verfärbte sich dunkelblau, dann nahm er ein nächtliches Schwarz an. Ich hatte Mühe zu atmen, während ich mir Alexandros ganz alleine auf dem Meeresboden vorstellte. Die dunklen Wellen sahen aus wie die bebende Haut einer riesigen, rastlosen Bestie, eines Ungeheuers, das meinen Bruder geschluckt und all meine Träume verschlungen hatte.
Ein Windstoß fuhr an mir vorüber wie ein Schlag, Tropfen von Gischt brannten auf meiner Haut. Ich sah den aufgehenden Mond an, der nur drei viertel voll war, aber doch eine silberne Decke über die schwankende Schwärze breitete. Isis. Ich frage dich. Warum? Warum hast du mich verschont? Mit all dieser Trauer leben zu müssen, war eine schlimmere Strafe als der Tod. Welche »Weisheit« sollte ich aus dem Albtraum, den der Verlust der Familie für mich bedeutete, gewinnen?
Doch ich erhielt keine Antwort. Ich starrte in das Gesicht des Mondes, studierte seine Flecken, Linien und Kanten wie ein Augur, der die Leber eines geopferten Lammes untersucht. Ich schloss die Augen und nahm den Geruch von Rosen wahr, den heiligen Blumen der Göttin. Ich spürte ihre Gegenwart. Meine Seele streckte sich ihr entgegen wie ein Kind, das die Arme hebt, um hochgenommen zu werden. Hilf mir , flehte ich.
Du bist nicht deine Mutter , flüsterte Isis.
Die Welt wurde still – ein seltsames Gefühl, denn noch wenige Augenblicke zuvor war
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