Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
es erreichen! Drei Schritte trennten sie von dort drüben und zwei Schritte hatte sie bereits getan. Ihr Schnabel reckte sich dem rätselhaften Glanz entgegen, den sie durchqueren wollte, doch kurz bevor sie das silberne Nichts berührte, wurde Lisandra gepackt und fortgerissen. Das Nichts, das sie eben noch so deutlich vor sich gesehen hatte, verschwand spurlos und die gewöhnliche Welt voller Schneeflocken, dicht, dämmrig und ausweglos, stürzte auf sie ein.
Sie strampelte mit ihren Vogelbeinen, doch sie hatte keine Chance. Zwei Hände hielten sie fest und es gab kein Entrinnen. Sie ahnte es, sie begriff es, bevor es ihr jemand erklärte: Es war der Zeitpunkt gekommen, an dem genau das passierte, wovor man sie gewarnt hatte. Sie wurde aus dem Weg g eräumt, aus dem Verkehr gezogen und unschädlich gemacht. Sie saß in der Falle.
Die Person, der die Hände gehörten, hob Lisandra hoch, um sie eingehend zu betrachten. Lisandra hatte damit gerechnet, in das Gesicht des Steinbockmanns zu sehen, doch es war Yu Kon, der sie musterte.
„Das war ja einfach“, sagte er. „Fast zu einfach.“
Lisandra konnte nicht sprechen. Ihr Schnabel erlaubte keine menschlichen Laute. Sie konnte nur strampeln und das tat sie aus Leibeskräften.
„Ich könnte dir jetzt den Hals umdrehen und du würdest nicht sterben, hm?“
Es klang neugierig. Lisandra befürchtete, dass er vorhatte, es auszuprobieren, doch zu ihrer großen Erleichterung schüttelte er sie nur einmal kurz und schaute sie dann wieder an.
„Das müsste reichen“, sagte er und ließ sie los.
Lisandra fiel wie ein Stein in den Schnee. Sie konnte weder ihre Flügel bewegen, noch ihre Beine und Füße. Schlaff wie ein toter Vogel lag sie herum und konnte nicht von alleine aufstehen.
„Die Narren denken, ich würde dich abliefern. Ha! Werde ich nicht tun, ich behalte dich lieber.“
Zu Lisandras Schrecken hob er sie wieder auf und stopfte sie in die Tasche seiner Kutte. Hier war es dunkel und stickig und da sich Lisandra nicht bewegen konnte und ihr Kopf leicht abgeknickt war, tat ihr jeder Schritt, den der Meister nun zurücklegte, im Genick weh. Nicht dass ihr das noch viel ausgemacht hätte – es war sowieso alles viel zu schrecklich, um wahr zu sein. Es war nur zusätzlich unangenehm.
„Yu Kon!“, hörte Lisandra jemanden rufen. „Warte!“
Der Meister blieb stehen und drehte sich um.
„Was hast du da in deiner Tasche?“, fragte die fremde Stimme.
Lisandra kannte sie irgendwoher, aber sie kam nicht d a rauf, wem die Stimme gehörte. Sie wusste nur, dass es eine Frauenstimme war.
„Hau ab!“, rief Yu Kon. „Hexe!“
Ah, jetzt fiel es Lisandra ein: Es war die Stimme von Wanda Flabbi!
„Ich will wissen, was du da hast!“, schrie sie.
War Wanda Flabbi wahnsinnig? Wusste sie denn nicht, mit wem sie es zu tun hatte?
„Hier!“, rief Yu Kon mit einer schneidenden Stimme, fuhr mit der Hand in die Tasche seiner Kutte und packte den bewegungsunfähigen Vogel. Lisandra verging Hören und Sehen, als er sie aus der Tasche riss und in die Luft hielt. Er zerquetschte sie fast. „Zufrieden?“
„Du lässt sie sofo rt los!“, brüllte Wanda Flabbi.
Lisandra konnte die Umrisse der gedrungenen Krötenfrau jetzt sehen. Sie stand ungefähr zwei Meter von Yu Kon entfernt auf einem Haufen Schnee.
Yu Kon verwendete keine Mühe auf eine Antwort, sondern holte zu einem magikalischen Schlag aus, der jeden ungeübten Kämpfer zu Boden geworfen hätte. Doch Wanda Flabbi hüpfte zur Seite und holte ihrerseits aus. Etwas wie ein Blitz schlug unmittelbar neben Yu Kon in einen Baum ein. Yu Kon fluchte und schlug zurück.
Was nun passierte, konnte Lisandra nicht genau sehen. Erst wurde sie hin- und herge schlenkert , weil der Zauberer beide Arme bewegte, dann schleuderte er sie in den Schnee, da er seine Hände brauchte, um mit den Fingern Zeichen in die Luft zu malen. Lisandra konnte sich nach wie vor nicht bewegen und so lag sie auf dem Rücken und sah nur etwas, wenn der Wind sie in die Richtung des Geschehens drückte, was aber nur ab und zu geschah.
Was sie allerdings mitbekam, erstaunte sie doch sehr: Wanda Flabbi und Yu Kon kämpften! Lisandra hatte in diesem Winter genug gelernt, um zu begreifen, dass sich Wanda Flabbi mehr als wacker schlug. Weder Hanns noch Haul hatten dem alten Meister jemals so viel Widerstand entgegensetzen können wie Wanda Flabbi. Aber seit wann war die Krötenfrau für etwas anderes zuständig als frische Bettlaken, gefegte
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