Mondscheinjammer
hatte sie als leitende Redakteurin bei einem New Yorker Nachrichtensender gearbeitet, und ich sah ihr an, wie sehr sie ihre Arbeit vermisste. Ab und zu erwischte ich sie sogar dabei, wie sie kleine Artikel an ihre ehemaligen Kollegen mailte. Doch da sie nun viel zu weit entfernt von der Stadt wohnte, in der sie aufgewachsen war, blieben solche Arbeiten eher eine Seltenheit.
Doch all das nahm sie in Kauf, nicht nur für meinen Vater, sondern auch für Caleb. Mein Bruder war erst neun und er liebte schon jetzt das Landleben. Zusammen mit seinem neuen Freund Jack streifte er jeden Tag stundenlang durch die Umgebung und kam meist erst zum Abendessen dreckverschmiert und zufrieden wieder nach Hause zurück. In New York hingegen hatte Caleb die meiste Zeit in seinem Zimmer vor dem Computer gehockt, erst seit wir in Nebraska wohnten, blühte er so richtig auf. Sogar seine Schulnoten hatten sich nach nur einem Monat rapide verbessert. Seine Spielkonsole lag seit Wochen unberührt in einer Ecke seines Zimmers und zum Fernsehen war er abends meist viel zu erschöpft.
"Ich würde auch gerne hier weggehen. Irgendwohin, wo man mich nicht kennt." Vanessa schloss träumerisch die Augen. "Und meine Eltern", schob sie hinterher. "Aber wir haben kein Geld fürs College. Das hat Dad mit seiner 'Schlampenfreundin' durchgebracht." Sie rollte theatralisch mit den Augen, während sie ihre Mutter zitierte und dabei pikiert die Lippen spitzte.
Ich musste unwillkürlich grinsen.
Vanessas Dad war der Eigentümer der örtlichen Autowerkstatt. Vor einiger Zeit hatte er eine Affäre mit seiner Buchhalterin angefangen. Doch die war weder eine dickbusige Blondine mit Schlauchbootlippen, noch sonst irgendein wahrgewordener Männertraum, sondern die ehemals beste Freundin von Vanessas Mutter. Vollschlank mit kurzen braunen Haaren und einem sehr mütterlichen Touch. Vanessas Vater wohnte nun schon seit fast zwei Jahren bei ihr, doch das Getratsche wollte einfach nicht aufhören, und so schloss sich ihre Mutter meist zu Hause ein und harrte der Dinge, die da kommen würden.
"Komm trotzdem mit nach New York. Wir suchen dir einen Job und du wohnst mit Kimberly und mir zusammen", schlug ich vor. "Eine Dreier-WG klingt doch gut." Ich lächelte sie ermutigend an.
"Klingt sogar viel zu gut." Sie erwiderte mein Lächeln und streckte sich genießerisch. Sie trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Namen irgendeiner Band, die ich nicht kannte, die aber anscheinend sehr auf Monster und Totenschädel abfuhr, und einen langen schwarzen Rock, unter dem ihre klobigen Schuhe hervorlugten. Ihre Haare wehten wie ein dichter schwarzer Vorhang im Wind und verdeckten ihr eigentlich recht hübsches Gesicht vor den geringschätzigen Blicken der anderen.
"Das wird toll. Wir drei in New York. Ich muss dir unbedingt meinen Lieblingsladen zeigen. Dann gehen wir einkaufen bis zum Umfallen und liegen im Park bis die Sonne untergeht." Meine Augen leuchteten bei der Vorstellung. Natürlich wusste ich, dass das alles andere als erwachsen klang, aber mit achtzehn durfte man zumindest noch ein wenig oberflächlich und kindisch sein. Der Ernst des Lebens würde schon noch früh genug beginnen.
Ich ahnte ja nicht, wie früh! Woher hätte ich auch wissen sollen, dass Parkerville gar nicht so idyllisch war, wie es auf den ersten Blick erschien. Alles, woran ich denken konnte, war, dass ich bis zum College noch dreizehn Monate Zeit hatte, um etwas zu erleben, und ich hatte ganz sicher nicht vor, die Tage damit zu verbringen, Maiskolben zu zählen.
"Ich habe noch eine Stunde Spanisch, danach geht’s nach Hause."
"Auf mich wartet Biologie." Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
"Soll ich dich danach wieder mitnehmen?"
"Gerne." Ich nickte erleichtert. Keine zehn Pferde brachten mich dazu, noch einmal in den vollbesetzten Schulbus zu steigen. Nicht, dass ich mich für etwas Besseres hielt, aber in den letzten Wochen war es immer wieder zu kleineren Auseinandersetzungen mit Ashleys sogenannten Freunden gekommen und erst gestern hatte ich mir einen dicken Kaugummi aus meinen Locken schneiden dürfen, der dort natürlich nur versehentlich drin gelandet war. Auf diese Art der Kindereien konnte ich nur allzu gut verzichten. Und auch auf die daraus resultierenden Besuche beim Schulleiter. Ich war erst vier Wochen an dieser Schule und hatte sein Zimmer bereits dreimal von innen gesehen, weder für ihn noch für mich ein besonders angenehmer Umstand.
"Dann treffen wir uns um halb auf dem
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