Mondscheinjammer
niemand lebend rausgekommen. Es war die einzige Möglichkeit, Benjamins einzige Schwäche."
"Meinst du, Sam wusste das?"
Xander zuckte die Schultern. "Wir haben kaum geredet, seit… seit er herausgefunden hat, dass ich nicht wirklich bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen bin. Keine Ahnung, wie viel er über 'uns' weiß. Aber er hat ja jetzt genug Zeit, es rauszufinden."
Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. "Wann kann ich zu ihm?"
"Ich halte das für keine gute Idee."
"Warum nicht?"
"Weil er… sich wahrscheinlich noch nicht unter Kontrolle haben wird. Er muss es erst verstehen… und dann entscheiden."
"Was entscheiden?" Mir gefiel es nicht, wie Xander mich dabei ansah.
"Auf welcher Seite er steht."
Wir sahen uns schweigend an und nun verstand ich. Xander hatte sich entschieden: Für ein Leben mit den Menschen, nicht gegen sie. Doch welchen Weg würde Sam wählen? Würde er ein Wesen der Nacht werden, was Menschen jagte und sich von ihnen ernährte? Ich wusste von Xander, wie groß die Verlockung war.
Was hatte ich ihm nur angetan?
EPILOG
"W enn du in Bio eine schlechte Note bekommst, weil deine Projektpartnerin einfach abgehauen ist, streiche ich Mr. O'Leary mit sofortiger Wirkung von der Liste meiner Lieblingslehrer." Kauend ließ Vanessa sich auf den freien Platz neben mich fallen.
In der Schulcafeteria herrschte ohrenbetäubender Lärm, und ich stocherte lustlos in meinem welken Salat herum. Alles kam mir so unwirklich vor. Ahnte niemand, wie knapp Parkerville einer Katastrophe entkommen war? Alle sprachen nur von dem unglücklichen Brand auf der Hudson-Ranch, bei dem viele Menschen gestorben waren. Die Stadt hatte eine Woche Trauer getragen, doch nun, in der winterlichen Sonne des Dezembers gingen alle wieder ihrer gewohnten Arbeit nach. Die Maisernte hatte termingerecht stattgefunden, mein Vater freute sich über seine ersten Erträge wie ein kleines Kind, Caleb war inzwischen fast schon so was wie der Klassenprimus und meine Mutter hatte ebenfalls eine neue Aufgabe gefunden: Sie half Dotti in ihrem kleinen Gemischtwarenladen.
Die Welt drehte sich weiter. Nur meine war zum Stillstand gekommen.
Ich hatte Sam nur ein einziges Mal wiedergesehen. Eines Nachts hatte er urplötzlich an mein Fenster geklopft. Er sah verändert aus. Irgendwie noch immer wie Sam, doch sein Körperbau wirkte um einiges kräftiger und seine Augen hatten eine merkwürdige Farbe angenommen. Das Kornblumenblau war verschwunden.
Ich spürte eine enorme Selbstbeherrschung, die von ihm ausging.
Eine Zeitlang hatten wir uns einfach nur angesehen, und ich wusste, dass ich ihn verloren hatte. Er war nicht mehr mein Sam.
"Ich muss gehen, Lily." Seine Stimme klang tiefer, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte.
"Warum?", fragte ich heiser.
"Weil ich Angst habe." Er schluckte schwer.
"Wovor?"
"Ich habe Angst, dir weh zu tun." Er senkte den Blick. "Ich habe das… nicht unter Kontrolle." Er sah an sich hinunter.
"Bist du mir böse?"
"Ich weiß es nicht. Ich bin noch zu verwirrt. Ich muss allein sein, verstehst du das?"
Ich nickte, obwohl ich es nicht verstehen wollte. Er sollte bei mir bleiben! Alles sollte wieder so sein, wie es gewesen war. Ich wollte ihn zurück!
"Kommst du wieder?" Ich sprach so leise, dass ich nicht wusste, ob er mich wirklich gehört hatte, doch er antwortete: "Ich weiß es nicht."
Meine Knie wurden weich. Ich hielt mich an meinem Schreibtisch fest.
"Nicht weinen, Lily, bitte. Ich kann dich nicht… trösten."
"Warum nicht?", schluchzte ich.
"Weil ich nicht weiß, ob ich stark genug bin, dir zu widerstehen. Lebe wohl." Mit diesen Worten wandte er mir den Rücken zu und kletterte zurück auf das Fensterbrett.
"Sam, bitte geh nicht, bitte! Ich liebe dich!"
"Gib mir Zeit!"
Durch einen Schleier aus Tränen sah ich wie er sprang, dann war er verschwunden.
Und mit ihm Xander.
Ich hatte mich noch nie so alleine gefühlt. Auch hier, mitten in der überfüllten Cafeteria mit den vielen lachenden Menschen.
Ich sah Joanne und Kylie, wie sie einige Tische entfernt saßen, ihre Pompons neben sich auf den Stühlen liegend, scherzend und flirtend mit den Jungen des Footballteams. Ein Platz war noch immer nicht besetzt, doch niemand schien Ashley Carter zu vermissen. Oder Greg.
Nur noch sechs Monate, dann würde ich Parkerville verlassen. An der Wand in meinem Zimmer hing noch immer der kleine Kalender. Ich hatte wieder angefangen, die Tage durchzustreichen.
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