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Mondscheintarif

Mondscheintarif

Titel: Mondscheintarif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ildikó von Kürthy
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Familienoberhaupt war mein Vater sozusagen der alleinherrschende Anrufbeantworter unserer Kleinfamilie. Und ich hatte ihn im Verdacht, Nachrichten nicht nur zu speichern und wiederzugeben, sondern auch auf unpassende Weise zu kommentieren.
    Dafür mag man nun Verständnis haben. Ich bin Einzelkind. Und der einzigen Tochter gegenüber entwickeln Väter wohl häufig einen gutgemeinten, aber in seinen Auswirkungen fatalen Beschützerinstinkt.
    Ich kann nichts beweisen, aber ich glaube, dass er über Jahre hinweg meine Verehrer, teilweise schon bevor sie meine Verehrer werden konnten, am Telefon verschreckte. Aufgeschnappte Gesprächsfetzen kommen mir in den Sinn:
    «Was willst du denn mal werden?»
    «Was, Sie wollen nicht zur Bundeswehr?»
    «Was meinen Sie damit, Sie wollen nach der zehnten Klasse abgehen?»
    Aus diesem Grund hatte ich mir einen Klappstuhl neben das Telefontischchen gestellt (um die Rechnung so überschaubar wie möglich zu halten, hatten meine Eltern die direkte Umgebung des Telefons so ungemütlich wie möglich gestaltet), hatte mein Tagebuch auf die Knie gelegt und etwa eine Stunde damit verbracht, pubertäre Gedichte über die Liebe zu schreiben.
    Aber damals war ich in der Kunst des Wartens noch nicht so bewandert wie heute. Vielleicht lag es auch daran, dass ich einfach noch nicht genug Frauenratgeber gelesen hatte, die meine weibliche, kindliche, unverbildete Impulsivität hemmten.
    Jedenfalls hatte ich nach fünfundsiebzig Minuten keine Lust mehr. Ich wählte Jakob Rödders Nummer, um ihm zu sagen, dass ich in der letzten Stunde ununterbrochen telefoniert hätte und er ja sicher mehrmals vergeblich versucht habe, mich zu erreichen. Jakob war nicht zu Hause. Aber seine Mutter, ein aktives Mitglied der Elternpflegschaft, war am Apparat. Sie fragte mich, was ich denn mal werden wolle. Ich nehme an, Jakob war Einzelkind. Aus der Sache ist dann irgendwie nie was Richtiges geworden.
    Heute, wie gesagt, hat sich die Phänomenologie des Wartens durch die Abwesenheit von behütenden Elternteilen und die Anwesenheit von Anrufbeantwortern und schnurlosen Telefonen dramatisch verändert. Und zwar sowohl für den Wartenden als auch für den, der auf sich warten lässt.
    Es ist auf der einen Seite sehr beruhigend zu wissen, dass man immer erreichbar ist. Wie jetzt zum Beispiel.
    Ich liege auf dem Sofa (ich liebe mein Sofa, es ist mit einemZebrastoff bezogen und so groß wie ein Asylantenheim). Ich höre sehr laut Barry White
«Never gonna give you up, never ever gonna stop. I like the way I feel about you. Girl I just can’t live without you!»
Wenn man sich auf die Stimme konzentriert und verdrängt, dass Barry White ein unglaublicher Fettsack ist, ist diese Musik wie ziemlich guter Sex.
    Gleichzeitig läuft der Fernseher ohne Ton (Barbara Eligmann gefällt mir gut, ohne Ton).
    Ich blättere in einer alten ‹BRIGITTE›-Ausgabe (‹Schlank werden, schlank bleiben: Wir haben’s geschafft! Vier Erfolgsstorys›).
    Ich esse Mini-Dickmann’s. ‹Schokoladen-Schaumküsse aus der Frischebox›. Ich find’s ja albern, dass man nicht mehr Negerkuss sagen darf. Raider hieß auf einmal Twix,
    Leningrad wieder St.   Petersburg und Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz. Ich meine, wer soll sich denn da noch auskennen? Gibt es eigentlich noch Serbische Bohnensuppe?
    Und während ich all diese Dinge tue, liegt mein Telefon in Hör- und Reichweite auf dem Sofakissen, gleich neben meinem Ohr.
    Ich könnte jetzt sogar Zigaretten holen gehen. Mein Anrufbeantworter würde tapfer Wache halten. Andererseits wäre er auch der gnadenlose Beweis dafür, dass niemand in meiner Abwesenheit versucht hat, mich zu erreichen. Das ist wiederum sehr kränkend. Früher konnte man sich zumindest noch einbilden, das Telefon habe in dieser Zeit unausgesetzt geklingelt.
    Außerdem, und jetzt kommt ein wirklich wichtiger Punkt: Wer sagt mir, dass der Anrufer, in diesem Falle Dr.   Daniel Hofmann, überhaupt eine Nachricht hinterlassen würde?
    Das würde ich mir an seiner Stelle zweimal überlegen. Das hieße ja, sämtliche Trümpfe ausder Hand zu geben. Dann wäre er schlagartig der Wartende. Müsste auf meinen Rückruf hoffen, ohne zu wissen, ob ich überhaupt an einem weiteren Kontakt interessiert bin. Was für eine Überwindung!
    Es ist sehr verzwickt. Solange die jeweiligen Standpunkte nicht eindeutig geklärt sind.
     
    Ich hatte meinen Standpunkt jedenfalls fürs Erste ziemlich klargemacht, als ich meine Nummer in der Praxis

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