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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederica de Cesco
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Leben wie ein Riss. Es war an jenem Tag, da wir einen jungen Falken fanden. Er lag in einer Blutlache im Gebüsch. Die Kugel war nahe dem Herzen eingeschlagen und hatte einen Flügel durchtrennt, er hing nur noch an ein paar Sehnensträngen. Der sterbende Vogel zitterte, sein Auge war schon gebrochen. Er zuckte zusammen, als Peter ihn behutsam berührte, doch wehrte er sich nicht mehr, er hatte keine Kraft mehr. Ich betrachtete die wunderbar gelenkigen Krallen, den grünen Glanz der Rückenfedern und das zauberhafte Spiel wechselnder Regenbogenfarben um seinen flaumigen Hals. Ein Wunder der Natur, in jeder Hinsicht vollkommen. Jeder kleine Muskel, jede Sehne, jede Feder genau an der richtigen Stelle, und alles erfüllte seinen Zweck. Eine solche Kreatur, für die Lüfte geboren, brachte nur die Schöpfung zustande. Kein Mensch auf Erden, niemals, konnte einen solchen kleinen Körper erfinden oder gar erschaffen. Der Mensch aber besaß die Fähigkeit, dieses Wunderwerk zu zerstören, nur durch einen Fingerdruck, im Bruchteil eines Atemzuges. Und so auch diesen Falken. Schon fand sich, mit gierigem Gebrumm, ein Schwarm dicker Fliegen ein, vom Blutgeruch angelockt. Der Falke lebte noch, aber nicht mehr lange. Schauer durchschüttelten seinen Körper und ließen jeweils kurz die Fliegen, die an der klaffenden Wunde klebten, aufschwirren. Die Krallen krümmten sich ein letztes Mal, bevor der ganze Vogel steif wurde. Der Falke, der wunderbare Segler der Lüfte,
war nur noch ein totes Tier, ein Aas. Wir richteten uns langsam auf, entfernten uns von den Fliegen, die sich gierig auf ihre Beute stürzten. Ich musste an Giovanni denken, der kleine Gräber für die toten Vögel ausgehoben hatte, während Peter an seinen Händen hinabsah, sich das Blut an den Nähten seiner Jeans abwischte. Und als unsere Blicke sich begegneten, sah ich Tränen in seinen Augen. Wir gingen stumm zurück zu unseren Fahrrädern, und etwas später, als wir oben auf den Klippen ruhten, den Blick auf das blaue Meer gerichtet, keimte in Peter der Gedanke, Tierarzt zu werden.
    Ich war dabei, erlebte diesen Augenblick, ohne es zu wissen, denn davon sprach er erst später. Er erzählte mir, wie er sich der Augen des jungen sterbenden Falken entsann, und an seine Gefühle dabei. Ich hatte nur Mitleid empfunden, mehr nicht. Er aber entdeckte Werte, die ihm wichtig waren, und fühlte, dass er dafür kämpfen wollte. Peter erweckte immer den Eindruck, dass er nicht wusste, was er eigentlich wollte. Aber das stimmte nicht. Ging es ihm darum, ein Ziel zu erreichen, setzte er sich durch. Immer stillschweigend, sodass man ihn leicht als heimtückisch bezeichnen konnte, was wiederum nicht zutraf: Peter wollte ganz einfach die Leute nicht stören. Tatsache war, dass die Melancholie Macht über ihn hatte und gelegentlich seine zielstrebige Beharrlichkeit bremste. Und Beharrlichkeit, davon brauchte er eine ganze Portion, als sein Vater sich ihm in den Weg stellte.
    Es war auch die Zeit, in der Malta sich veränderte, Anschluss an eine ebenso sich verändernde Welt suchte. Immer mehr Touristen kamen, auf St. Julian und Sliema wurden Hotels und Appartements gebaut, eine wuchernde Architekturwelt machte sich breit. Mit der Zahl der Touristen wuchs auch das Interesse der Malteser an ihrem Erbe, das lange genug nur von aufgeklärten Geistern wahrgenommen worden war. Der geheimnisvolle Ursprung vorgeschichtlicher Riesentempel erlebte neue Interpretationen, gab ernstzunehmenden Studien
wie auch fantastischen Spekulationen Raum. Das Angesicht der Erde hatte sich im Laufe der Jahrtausende gewandelt, Flüsse waren ausgetrocknet, der Boden hatte sich über dem Meeresspiegel gehoben. Offenbar war unser Archipel in der letzten Eiszeit durch einen Landrücken mit Sizilien verbunden gewesen. Noch heute weiß keiner, woher die Ureinwohner Maltas kamen, welches geheimnisvolle Wissen sie mit sich trugen. Die Spiralen, karminrot und schwarz, flüsterten ihre Geheimsprache, erzählten von Sternbildern und Strudeln, von den ersten Lebensformen, von der Kraft der Großen Mutter, die aus den Vorfahren wuchs, aus den Menschen und Tieren, die hier begraben wurden. Einst hatte Vivi, die kleine Mondtänzerin, diese Kraft gespürt und ihr einen Namen gegeben: Persea. Wir seien ihre Kinder, hatte Viviane gesagt. Wir hatten daran geglaubt, wie Kinder es glauben: Es war ein Spiel gewesen, und doch nicht nur ein Spiel. Die uralte, schwere Kraft war ja nicht vergeudet: Wir, die Kinder, hatten sie

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