Mondtaenzerin
Gehalt für möglichst viele Dinge reichte. Peter merkte recht bald, dass er vor übergroßen Erwartungen zurückschreckte, dass es ihm aber unendlich schwerfiel, mit seinem Vater darüber zu reden.
»Ich nehme immer wieder einen Anlauf und renne gegen die Wand«, sagte er zu mir. »Er hat nur seine Argumente im Kopf. Der Ärzteberuf gehört zu unserer Familie, sogar mein Urgroßvater war Arzt. Du kannst dein Erbe nicht in die Ecke stellen.«
»Sagt er solche Dinge?«
»Ja, und ich fühle mich schuldig. Er hat für mich einen Käfig gebaut, und ich schäme mich, dass ich herauswill. Wie kann ich ihm klarmachen, dass es andere Dinge gibt, die für mich wichtig und wesentlich sind? Das kann ich nur dir sagen, Alessa. Rede ich mit ihm, führt es zu nichts.«
Wir hatten unsere Vorliebe für gemeinsame Radtouren entdeckt. Im Frühsommer, wenn die Tage noch nicht in voller Glut waren, fuhren wir abseits der Straßen den Hügeln entgegen. Es dauerte keine halbe Stunde, und Valletta, mit ihrem Lärm und Verkehr, verschwand wie ein dunstiger Traum. Jenseits der Höhenzüge waren die Wege nur noch steinige Trampelpfade. Hier fand man noch befestigte Höhlen und die Reste verlassener Siedlungen. Aus den Ritzen alter Gemäuer, erstickt von weit verzweigten Baumwurzeln, spross Farnkraut, eines der ältesten Gewächse dieser Erde. Es gab nur noch die Stille, das Rauschen des Windes. Wir begegneten einer Tierwelt, die abseits unseres Lebens ihr eigenes, unruhiges Leben führte. Wildkaninchen, die wir »Fennec« nannten, Igel, Mäuse und schlanke, misstrauische Wiesel. Grillen zirpten, blaue Schmetterlinge wirbelten empor. Bienen, die bereits die Römer in Tonbehältern züchteten, summten in den Thymianbüschen. Wir beobachteten Eidechsen, Kröten und Salamander. Und die Vögel! Kreisende Sturmschwalben, trunken tanzende Lerchen,
stille Rebhühner, Blaumerlen und Falken, unser Nationalvogel. Der Anblick der Zugvögel auf dem Weg zwischen Europa und Afrika entzückte uns: Wir hatten uns Feldstecher besorgt, um sie besser zu sehen. Dann und wann segelte ein Adler über den Hügeln, hob sich gegen eine leuchtende Kumuluswolke ab, zog eine breite Schleife am Himmel, ließ sich treiben. Besaß der Adler ein Denkvermögen? War er nur eine aus purem Instinkt bestehende Kreatur? Dann aber war sein Instinkt unfehlbar. Nichts konnte ihn unverhofft treffen, nur eine Kugel. Die Jäger. Wir begegneten ihnen oft in den Hügeln. Misstrauische, finstere junge Männer und Burschen, die Spaß an der Jagd hatten oder sie als Gewerbe nutzten. Es war besser, ihnen aus dem Weg zu gehen. Es gab auch die Mitglieder des Jagdverbandes, die in Valletta ein großes Wählerpotenzial bildeten. Sie waren oft mit Hunden unterwegs, die laut bellten, aber gut gehorchten, sodass wir nie zu Schaden kamen. Diese Jäger waren freundlich und umgänglich. Das Vergnügen, abends einen Hasen auf den Küchentisch zu legen, bedeutete ihnen weniger als eine standesgemäße Geselligkeit. Man war an der frischen Luft, die vorsorglichen Ehefrauen hatten Proviant eingepackt, und es gab immer einen Teilnehmer, der ein gute Flasche Wein in der Jagdtasche hatte. Jedoch, das alles war nicht harmlos. Manche Felder waren voll von den Hülsen der Schrotpatronen. Man war sich damals noch nicht bewusst, dass der Bleigehalt aus den Schrotkugeln die Felder langsam, aber stetig vergiftete. Gelegentlich stießen wir auch auf ungeschützte Mülldeponien, wo Ratten lebten und Fliegen in brummenden Schwärmen aufstiegen. Und so, ganz allmählich, begannen wir die Landschaft in einem anderen Licht zu sehen. Die Welt unserer Kindheit, von Vögeln und Eidechsen heimgesucht, von wehender Brise und tanzendem Sonnenlicht umspielt, war eine bedrohte Welt. Dabei suchten wir nicht die Verdrängung. Hauchdünn und durchsichtig war die Wand zwischen gestern und nie mehr. Vivi mit ihren tanzenden roten Haaren und Giovanni mit dem
glatten inneren Glanz seiner Haut begleiteten uns als Schatten in der Sonne. Sie waren verschwunden, und doch waren sie irgendwo, in einer anderen Dimension. Zwischen Peter und mir gab es ein Band, aus gemeinsamen Erinnerungen gewebt. Gerüche, Töne und Empfindungen brachten das weite Feld der Gedanken zum Vibrieren. Der Dialog mit der Vergangenheit fand immer statt, wir blieben nie stehen, weder innen noch außen. Wir entwickelten uns. Die Veränderung trat viel plötzlicher ein, als wir beide es für möglich gehalten hätten. Sie betraf zunächst Peter und spaltete sein
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