Mondtaenzerin
allerschönsten dieser Welt«, sagte Großmutter zu mir. »Was davon zurückbleibt, ist die Bildkraft. Wir sind ganz von Bildern umstellt. Nichts ist vergangen, alles ist da. Wir haben gelernt, was immer wir sehen, als Erinnerung zu bewahren. Und darin haben wir Übung, glaube mir, Alessa.«
Ich glaubte ihr aufs Wort, blickte ich doch auf eine ähnliche Erfahrung zurück. In den Schmerz des Verlustes mischte sich eine seltsame Freude, die mir unsinnig vorkam. Und doch lag Logik darin, die Logik des Besitzens. Die Erinnerungen gehörten
nur mir, sie waren ein Schatz, den ich im Herzen hütete. Ich war Trägerin von Gefühlen, die nicht mitteilbar waren.
Binz war ein Städtchen wie aus einem Bilderbuch, von Meer und Wäldern umgeben. Die Großeltern bewohnten hier ein Haus, das mich an ein Puppenhaus denken ließ, weiß, mit schwarzem Gebälk und direkt dem Badestrand gegenüber. Ein paar Schritte nur, und man war im Wasser. Jedes Möbelstück im Haus war sorgfältig poliert, jede Pflanze liebevoll gepflegt. Bisher war mir nur der maltesische Pomp vertraut, die Tische mit Marmorplatten, die Kredenzen und Buffets, die mit Spitzen überzogenen Lampenschirme, die Kronleuchter, die düsteren Gemälde. Ich hatte auch die englische Blümchentapeten gesehen, die mit Stoff bezogenen Sofas und Sessel, undefinierbar und unpersönlich, die Nippsachen in jeder Vitrine. Nun begriff ich, warum Mutter es verstanden hatte, auch in unserer Wohnung in Valletta eine Harmonie herzustellen, alte Eichenmöbel mit schlichten Korbstühlen zu kombinieren, für Vorhänge und selbst genähte Kissen schöne, kontrastreiche Farben zu wählen. Die Großeltern hatten mir ein Zimmer unter dem Dach gegeben, schlicht wie eine Mönchszelle, aber so liebevoll durchdacht und bequem, dass ich mich auf Anhieb wohl fühlte. Daneben das kleine Badezimmer, weiß gekachelt, alles hell, mit einem großen Naturschwamm in der Duschkabine. Die Großmutter zeigte mir die Buchhandlung, ein paar Straßen weiter, die jetzt der Prokuristin gehörte. Klein, mit Regalen aus hellem Holz: ein freundlicher Ort, ein Ort zum Wohlfühlen. Für Kinder waren bunte Kissen und jede Menge Bilderbücher vorgesehen. Ein großes Sortiment an Märchenbüchern, erzählte Großmutter, das hätten sie schon vor der Wende gehabt. Märchenbücher waren immer erlaubt gewesen, auch Klassiker und Lyrik. Und Literatur aus dem Osten natürlich, und aus allen »befreundeten« Ländern – sogar aus Kuba. Ich ließ Großmutter erzählen, ich hatte ja von diesen Dingen
keine Ahnung. Ja, und es gab zahlreiche sprachgewaltige und hochgebildete Autoren, solche, die gelernt hatten, nur einen Bruchteil von alldem mitzuteilen, was sie hätten schreiben können. Sie nannte einige Namen: Erwin Strittmatter, Helmut Sakowski, Fritz Reuter, Christa Wolf. Ob sie berühmt waren, wollte ich wissen. In ihrer Zeitepoche, ja gewiss, meinte Großmutter. Sie hatten sich imaginäre Freiräume geschaffen, ihre Freiheit in der Enge bewahrt. Manche fanden sich gut damit ab, einige zerbrachen.
Die Großeltern gerieten nie in Verlegenheit, wenn sie ihr damaliges Leben schilderten. Sie verloren sich auch nie in der Aufzeichnung der kleinen täglichen Quälereien. »Wir meinten, es würde genügen zu arbeiten, jeder an seinem Platz, um zufrieden zu sein. Es gab ja zu essen für alle. Die Jungen, die in dieser Zeit geboren waren, die nie etwas anderes gekannt hatten, fanden dieses Leben normal. Wir, die Alten, wussten es besser, aber hielten den Mund. Wir waren vorsichtig geworden. Man konnte eigentlich über alles reden, über Kunst und Musik, über Literatur und Film. Auch über Umweltschutz und über Friedensforschung, was auch immer man darunter verstand. Über alles, nur nicht über Dinge, die wirklich wichtig waren.«
An das aus der Überwachung entstandene Widerwärtige wollten die Großeltern nicht erinnert werden. Dafür zeigten sie mir Bilder meiner Mutter Ingrid als Kind: ein schlaksiges Mädchen in Shorts, mit hellblonden Fransen und einem arglosen Lächeln, die sich, von Bild zu Bild, zu einer Ballerina entwickelte, zu einer Feengestalt.
»Ihre Sprünge waren einfach unglaublich, sie schien in der Luft zu schweben. Sie war eine begnadete Künstlerin, ihr Fortgehen war schon richtig«, kommentierte Großvater. »Und das Leben hier, was war das denn schon? Aber dann verletzte sie sich, und alles war aus. Und dann lernte sie deinen Vater kennen…«
Von meinem Vater als jungem Mann hatte ich nur wenige Fotos
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