Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederica de Cesco
Vom Netzwerk:
durchsetzte. Wir Studenten fühlten uns zunächst wie Mitglieder einer Geheimloge – von denen es in Großbritannien ja nur so wimmelt –, einer Loge von Idealisten, die milde belächelt wurden, bis man ihnen plötzlich Aufmerksamkeit schenkte, was den Aufgabenbereich noch weitläufiger und komplizierter machte. Denn Naturschutz kann sich nicht aus einer verschwommenen ökologischen Vorstellung verwirklichen, ohne dass die Grundlagen der Physik, der Technik, der Architektur und der Politik mit einbezogen werden. Dazu kamen die unterschiedlichen Rechtslagen, die Veränderung politischer Strukturen; wir lernten, wie wesentlich die Zusammenarbeit zwischen Naturschutz, Straßen- und Hochbaukonzepten, Privatwirtschaft und Wissenschaft sein muss. Das alles waren komplexe Gebiete, es gab Widerstände, aber nur die Mischung führte zum Ziel, und die beunruhigten Menschen fühlten es wohl, wie nötig sie es hatten.
    Auch wenn viele Studenten arbeiteten, um Geld zu verdienen (ihre Eltern waren nicht so großzügig wie meine), waren sie viel lässiger, viel trendiger als ich. Eine negative Haltung der Gesellschaft gegenüber gehörte dazu. Sie waren mit Dialektik ausgefüllt, nicht aber mit Selbstkritik. Sie streikten ausgesprochen gerne, man sah sie auf Demonstrationen, am liebsten Seite an Seite mit schwarz vermummten Anarchisten, und waren erst richtig zufrieden, wenn die englischen Polizisten
ihre sprichwörtliche Geduld verloren. Ich war – nach außen hin – von einer fast widerwärtigen Normalität, schwänzte keine Vorlesung, war nahezu unanständig strebsam. Und das nur, weil mich die Materie interessierte. Das erregte zunächst Misstrauen. Wo hatte ich denn vorher gelebt? Auf dem Mond? Nein, auf Malta. Ach so. Malta war Militärbastion, nicht wahr, Stützpunkt der Engländer im Zweiten Weltkrieg? Und wer waren denn die Johanniter, mit ihrem feudalistischen Zwang? Imperialisten, Kolonialisten? Doch ganz gewiss Finanzhaie, oder? Ich sprach ein wenig über das alles, man schenkte mir Wohlwollen, weil ich differenziert urteilte. Man hörte gerne, dass Malta 1971 eine Reihe von Reformen eingeleitet hatte, die sich an den planwirtschaftlich gelenkten Staaten Osteuropas und Chinas orientierten. Ja, aber der 1969 erbaute Schnellstraßentunnel im Bezirk Santa Barbara wurde von Bauingenieuren aus Taiwan errichtet und daher auch »Sun Yat-sen«-Tunnel genannt. Man nahm die Widersprüche perplex zur Kenntnis. Ja, und zurzeit stand Malta vor einem wirtschaftlichen Aufschwung, und die Menschen lebten recht gut. Die Kriminalitätsrate war niedrig, es gab wenige Einbrüche, Diebstähle oder dergleichen. Und Sex war nicht mehr verpönt, sondern geduldet. Ob es Aids gab? Aids gab es wohl, machte aber keine Schlagzeilen. Ansonsten pflegte man die alten, warmen und vertrauten Familienwerte: Mutter, Vater und vier oder fünf Kinder, sonntäglicher Kirchgang, Taufe und Erstkommunion. Aufgeklärte Geister gab es in Fülle, aber es war schon so, dass Malteser gerne mit ihresgleichen verkehrten: die Lehrer mit den Lehrern, die Beamten mit Beamten, die Juristen mit Juristen und so weiter. Jemand ließ einen tragischen Seufzer hören. Das System kränkelte also, spuckte aber noch nicht Blut. Für die Revolution, die echte, war es offenbar noch zu früh. Und so übte man Nachsicht und lauschte hingerissen auf die Kehl- und Zischlaute meiner arabisch-semitischen Muttersprache. »Wie geht’s?«, übersetzte ich mit »Kif inti«, »danke« mit »Grazzi«
und »bitte« mit »jekk joghgbok«. Das machte mich zu einer raren Erscheinung, bei der man nicht recht wusste, was man von ihr zu halten hatte, die aber, aus undefinierbaren Gründen, einen gewissen Grad von Beliebtheit genoss. Auf diese Weise hatte ich bald eine Menge Bekannte, und mein erstes Studienjahr verlief recht lustig. Ich tanzte auf Partys, verkehrte in Pubs und verliebte mich gelegentlich. Aber nie etwas Ernstes. Giovanni war immer da, war das Symbol und der Brennpunkt von allem, was mir mangelte, der Kern meiner Sehnsucht, eine schmerzlich brennende Stelle in mir. Mit Viviane hätte ich darüber sprechen können, aber Viviane, die Senkrechtstarterin, war selten in London. Sie war in Los Angeles oder in Ottawa oder in Melbourne, immer unterwegs, auf Erfolgskurs. Inzwischen tauschten Peter und ich regelmäßig E-Mails. Peter war im ersten, dann im zweiten Semester. Er spielte Tennis und besuchte einen Schachclub. So weit, so gut. Ich begann allmählich zu argwöhnen, dass ihm wohl

Weitere Kostenlose Bücher