Mondtaenzerin
Gesichertes, Vorgefasstes; nichts war fruchtbarer für sie als die Herausforderung. Und die Müdigkeit gab ihr eine noch stärkere Präsenz. Aber trotzdem spürte ich Unruhe. Viviane war so extrem feinfühlig, da stimmte etwas nicht. Denken ist die Sprache des Selbstgespräches. Dann wird die Zunge schwer, die Gesten unbeholfen. Vivianes Tagträume formten sich auf einer Ebene, die uns ein Rätsel war.
Ich brachte sie zum Hotel, entließ den Fahrer. Die Musiker schleppten ihr Gepäck in das dritte Stockwerk und sagten, sie wollten sofort mit der Arbeit beginnen. Viviane trank ihre zwei Kaffee, essen wollte sie nichts.
»Nach der Show, ja? Vorher nicht, das ist besser.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich Viviane und den Musikern nur im Weg war, und verließ sie. Ich war nervös und wusste genau, es hing mit Giovanni zusammen. Irgendwie musste ich die Zeit totschlagen, den Gedanken an ihn loswerden. Peter kam erst in einer Stunde, er musste noch in der Pizzeria aushelfen. Ich ging zu meiner Mutter. Auch das Theater war in der Notte Bianca bis vier Uhr morgens geöffnet, die Sänger stellten sich auf Leute ein, die keine üblichen Theaterbesucher waren. Im Theater traten eigentlich nur Hobbykünstler auf, aber gute, die aus der Musikschule kamen. Mit den Sängern verhielt es sich ebenso. Ein- oder zweimal im Jahr kamen hochkarätige Solisten nach Malta. Für mehr Gastspiele aus dem Ausland reichten die Subventionen nicht.
Mutter beklagte sich, dass es in dieser Nacht zwangsläufig zu einer Niveausenkung kam. Die Perfektionistin in ihr war verärgert.
»Die Leute können ein- und ausgehen, wie es ihnen passt. Das nervt die Künstler und ist bloß frustrierend.«
Sie nähte ein Kleid mit schnellen akkuraten Stichen: Die Sopranistin hatte zugenommen, ein Reißverschluss war geplatzt, als sie La Traviata probte. Das Kleid war dunkelrot, mit Fransen und Pailletten bestickt.
»Stell dir vor, es wäre ihr bei der Aufführung passiert!«
Ich lächelte pflichtbewusst. Beim Nähen blickte sie mich verdrossen an.
»Du siehst müde aus«, stellte sie fest.
Ich nahm einen innerlichen Anlauf.
»Mama, Giovanni ist zurück.«
Sie sah rasch auf.
»Seit wann?«
»Seit ein paar Tagen.«
»Dein Vater wird nicht sehr erfreut sein.«
»Das Gegenteil hätte mich überrascht.«
Sie fuhr fort zu nähen; in ihren Bewegungen lag unterdrückte Heftigkeit.
»Wo war er denn die ganze Zeit?«
»In Afrika und Mittelamerika, ich weiß nicht einmal, wo sonst noch. Er hat wenig gesagt.«
»Wie geht es ihm?«
»Gut, eigentlich. Er lässt dich grüßen«, setzte ich hinzu und merkte, dass meine Stimme herausfordernd klang.
»Danke«, erwiderte sie spröde. »Er hat sich gewiss sehr verändert.«
»Ja … und auch wieder, nein. Es ist im Grunde erstaunlich, wie sehr er noch so ist wie früher…«
»Warum ist er zurückgekommen?«
»Der Vater ist tot, die Brüder haben das Land verkauft und schulden ihm Geld.«
»Bei Erbschaftsgeschichten gibt es immer Streit.«
»Es sieht ganz danach aus.«
»Ist er verheiratet? Hat er Kinder?«
Mein Kopf wurde heiß.
»Ist doch egal.«
»Hat er dir nichts erzählt?«
»Er sagt, er hätte ein paar Frauen gehabt.«
»So? Und das lässt du dir gefallen?«
»Was erwartest du? Dass ich Moral predige?«
»Weiß Peter schon, dass er da ist?«
»Aber natürlich!«
Sie räusperte sich.
»Ihr seid wirklich sonderbar!«
»Worin sind wir so sonderbar, wenn ich fragen darf?«
Sie warf eine Strähne aus dem Gesicht.
»Hör mal«, sagte sie bekümmert, »ich habe zwar die Sache nie regelrecht studiert, aber Menschen kann ich analysieren. Ich behaupte auch nicht, dass es immer zutrifft. Aber meistens doch. Giovannis Hauptproblem war immer sein Umfeld:
schlechte Kinderstube, schlechte Freunde. Nur in deiner optimistischen Meinung ist er immer noch ein toller Typ. Du siehst alles Mögliche in ihm, du spinnst nur Illusionen. Weiche doch nicht immer den Tatsachen aus!«
Ich biss die Zähne zusammen. Mein gesunder Menschenverstand sagte mir, sie hat recht. Und auf einmal war ich von der Einsicht überwältigt, dass sich hier das Ende eines langen Weges in der Ferne zeigte. Stur, wie ich war, wandte ich mich von diesem Weg ab, flüchtete in die Sackgasse der Aggression, ein altbekanntes Verhalten.
»Bist du bald fertig?«, fragte ich kalt.
»War er bei dir in der Wohnung?«
Sie zeigte den gleichen fragenden und missbilligenden Blick wie vor zwölf Jahren, als der Kommissar – inzwischen längst im
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