Mondtaenzerin
Ruhestand – mich verhört hatte. Ich schlug zurück.
»Das geht dich überhaupt nichts an!«
»Und was ist mit den Nachbarn?«
»Ja, was ist mit ihnen?«, äffte ich sie nach.
Mutter bewahrte ihre Geduld.
»Ich kritisiere nicht dich – versteh mich recht! Aber Valletta ist ein Hühnerhof, überall wird geklatscht. Sogar Peter gab Anlass zu Geschwätz, zum Glück hat sich die Sache beruhigt. Aber Giovanni! Dass seine Brüder ein Gaunerpack sind, weiß die ganze Stadt. Giovanni war nie ein Umgang für dich. Gestern nicht und heute nicht! Aber du willst das ja nicht hören.«
Sie sprach mit einem merkwürdig boshaften, gerissenen Unterton. Von der Cafeteria im Innenhof hatte ich mir Kaffee in einem Pappbecher geholt. Ich nahm einen Schluck. Der Kaffee war viel zu heiß und schmeckte scheußlich.
»Mama, ich kann es nicht fassen, wie engstirnig du geworden bist. Wenn ich mir die Großeltern vorstelle, so offen, wie die sind …«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Aber das steht überhaupt nicht zur Debatte! Im Norden hat
man mehr… Verständnis. Hier gibt es vieles, was man machen möchte, aber nicht kann. Auch ich musste mich anpassen. Was habe ich in meinem Leben ertragen, wenn ich nur daran denke!«
»Ich möchte dir keinen Kummer machen, aber das war vor dreißig Jahren!«
»Hast du Augen im Kopf, wirst du sehen, dass sich wenig geändert hat. Hier haben die Menschen noch feste Vorstellungen von dem, was sich gehört und was nicht.«
»Mama, du langweilst mich. Wovon redest du eigentlich?«
»Ich rede von deiner infantilen Story, mit der du nicht weiterkommst. Was hat er nun vor? Will er hierbleiben? Entschuldige«, setzte sie höhnisch hinzu, »es ist reine Neugierde …«
Ich bemerkte die angewiderte Abneigung in ihrer Stimme, und es war, wie ich inzwischen herausbekommen hatte, eher die Abneigung meines Vaters. Ich zitterte innerlich von Kopf bis Fuß und wollte den Streit beenden.
»Nein. Er bringt seine Sachen in Ordnung und verschwindet.« Ich setzte hinzu, im lockeren Umgangston: »Siehst du, wenn er geht, dann nur deshalb, weil es keinen Sinn hat, dass er bleibt. Er kann sich nicht mehr umstellen.«
»Hat er dir das gesagt?«
»Er würde mir nie etwas vorlügen.«
Ihre steife Haltung entspannte sich ein wenig.
»Ja, das stimmt eigentlich«, gab sie widerwillig zu. »Giovanni hat immer die Wahrheit gesagt.«
Ich schlürfte den abscheulichen Kaffee. Ich fühlte mich elend. Ach, was wurde bloß aus mir, wenn Giovanni nicht mehr da war? Ich sprach von etwas anderem.
»Gehst du nachher aus?«
Vallettas nächtlicher Rausch ließ Mutter kalt.
»Nein, ich habe ohnehin im Theater zu tun. Vielleicht sehe ich mir das eine oder andere im Vorbeigehen an. Es ist ja immer dasselbe.«
»Und Vater?«
»Der trifft sich mit Freunden, bei ihm wird es wohl spät werden.«
Die beiden hatten immer im Gegensatz zueinander gestanden. In letzter Zeit schien sich der Graben, der sie voneinander trennte, zu vergrößern. Ich konnte mich einer Stichelei nicht enthalten.
»Lebt ihr eigentlich in zufriedener Partnerschaft?«
Sie warf mir einen misstrauischen Blick zu.
»In welcher Hinsicht?«
»In jeder Hinsicht.«
»Nach ein paar Jahren ist es eben so.«
Früher konnte sie mich mit ihrer Kälte zur Weißglut treiben. Jetzt wehrte sie sich kaum noch. Mir war, als verlöre sie nach und nach jedes Interesse an der Welt. Ich zerknüllte den Pappbecher. Du meine Güte! Wenn ich so in Wut war, musste ich mich zusammennehmen. Bevor ich ging, sagte ich auf anständige Weise, was ich zu sagen hatte.
»Wir treffen uns heute Abend – alle vier.« Und fügte gleich hinzu: »Peter freut sich sehr, Giovanni zu sehen.«
Sie ging mir nicht auf den Leim.
»Das bezweifle ich. Und Viviane?«
Allmählich gewann ich meine Ruhe wieder.
»Sie gibt zuerst ihr Konzert. Anschließend gehen wir essen.«
Sie hatte wieder zu nähen begonnen. Ihr blasses nordisches Gesicht zeigte keine Grausamkeit mehr, ihre Gesten waren akkurat und schön. Sie tat nichts als Kostüme auszubessern und war am liebsten mit sich selbst allein. Eine Frau, die stumpf und blass eine Scheinwelt bewohnte. Mein Vater hingegen war lebensfroh und ging gerne aus. Was er sonst noch trieb, war seine Sache. Ich fand das in Ordnung. Möglicherweise blieb er auf diese Weise von Kummer und Kränkung verschont. Ich verabschiedete mich, ging zur Tür hinüber und sie sagte hinter mir, in beiläufigem Tonfall:
»Da seid ihr ja wieder unter euch!«
39.
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