Mondtaenzerin
Kapitel
A uf Malta kommt die Nacht schnell. Die Sonne zieht sich zu einer purpurnen Kugel zusammen, gleitet flimmernd am Horizont herab; die Häuser, der Hafen und die Festungsmauern nehmen die Farbe reifer Aprikosen an. Der Mond steigt groß und kupfern empor, während flirrende Unruhe die Stadt erfüllt.
An diesem Abend flatterten Kirchenbanner, Lichterketten schaukelten im Wind, Holzbuden waren für die auftretenden Künstler errichtet worden. Schon am Nachmittag hatte Musik begonnen aus jeder Bar, jeder Disco zu schallen. Tische und Stühle standen mitten auf der Straße. Die Notte Bianca – die »weiße Nacht« – gefiel besonders den Malteser Künstlern, die sich immer ein wenig isoliert fühlten. Komponisten, Maler, Tänzer und Musiker wollten zeigen, dass sie am Puls der Zeit lebten. Es gefiel ihnen sehr, wenn sich in der Stadt Menschen von auswärts drängten. Sie befanden sich in der ausgelassenen Stimmung von Kindern, die endlich zeigen konnten, was in ihnen steckte. Schon seit Wochen hatten sie eifrig ihre Nummern einstudiert, Kostüme genäht und Bühnenbilder gemalt. Alles wirkte einfallsreich, schöpferisch und etwas naiv. Es war auch eine Form von Widerstand. Widerstand gegen eine traditionelle Gemeinschaft, die noch recht einengend war. Die Künstler – oder solche, die sich dafür hielten – gingen mit Provokationen knausrig um. Alle Gebäude und Kirchen, von Scheinwerfern angestrahlt, zeichneten sich wie ein Schattentheater am Himmel ab. Kaum dunkelte es, waren die Straßen
schwarz von Menschen, in jedem Café herrschte Gedränge, kein Tisch, kein Stuhl war mehr frei. Alle Kirchen und Paläste waren ohne Eintrittsgeld zu besichtigen. Und weil es den Maltesern gefiel, ihre bisweilen recht düstere Vergangenheit genüsslich aufzuarbeiten, wurde im Palast des Inquisitors ein Hexenprozess dargestellt, Folter und Hinrichtung inbegriffen. Düstere Mönchgestalten bildeten eine Prozession im Kerzenlicht, eine zerlumpte, mit roter Farbe verschmierte junge Frau flehte herzzerreißend um Erbarmen, das Ganze mit dramatischer Musik auf Tonband und in voller Lautstärke untermalt, während wollüstig schaudernde Touristen eifrig fotografierten.
Peter und ich hatten uns in einer Bar bei der Busstation verabredet. Peter war schon da. Er hatte einen der runden Marmortische ergattert. Ich setzte mich zu ihm und bestellte Orangina.
»Ist Viviane gut angekommen?«, fragte er.
»Mit Verspätung, aber sie ist da.«
»Wie sieht sie aus?«
»Großartig!« Ich seufzte. Es blieb immer noch diese Unruhe in mir. »Aber dann ist sie plötzlich komisch geworden.«
»Was verstehst du unter komisch?«
»Irgendwie abwesend, halb verschlafen.«
»Sie wird müde sein.«
»Sie sagt, sie hatte im Flugzeug geschlafen.«
»Oder sie hat getrunken.«
»Viviane trinkt nicht.«
»Oder geraucht.«
»Viviane raucht nicht. Nie im Leben.«
»Tja«, meinte er, »du kennst sie besser als ich.«
»Nein, überhaupt nicht.«
Mein Herz wurde schwer. Was hatte Viviane bei unserem letzten Gespräch in London über Giovanni gesagt? »Er trägt die dunkle Aura, die Aura des Unheils.« Wieder überlief es
mich kalt. Anscheinend sah Viviane diese Aura. Ihr Wesen war labil und verschwiegen. Und es war schon so, dass Giovanni in ihr etwas anderes spürte als Peter und ich. Zwischen Viviane und Giovanni gab es eine Verbindung, die zu tiefgründig war für mein sachliches Empfinden. Doch davon sprach ich nicht. Und Peters nächste Frage brachte mich in die Wirklichkeit zurück, aber so, dass ich mich kaum besser fühlte.
»Hängt es womöglich mit Giovanni zusammen?«
Es war, als hätte er meine Gedanken gelesen. Mühsam hielt ich seinem Blick stand. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Hände. Dabei versuchte er zu lächeln, brachte es jedoch nicht fertig. Ich nickte ihm langsam zu.
»Frag sie doch«, sagte ich.
Er antwortete nicht. Und mit fast ein und derselben Bewegung wandten wir die Gesichter voneinander ab, starrten blind auf die vorbeiziehende Menschenmenge. Es wurde allmählich Zeit, dass wir aufbrachen. Wir riefen den Kellner, und sofort stellten sich Leute dicht an unseren Tisch, nahmen ihn bereits in Beschlag. Wir verließen das Café. In der Notte Bianca kam eine Kunst zum Ausdruck, kreativ, aber ohne Sponsoren. Es traten keine Berühmtheiten auf, keine musikalischen Schwergewichte – außer Viviane. Aber Viviane war eine Einheimische. Die Leute freuten sich auf sie. Wir bahnten uns einen Weg durch
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