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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederica de Cesco
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kribbelte. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Im Gegenteil, etwas war völlig falsch. Ich wusste genau, dass ich mich nicht irrte. Aber ich konnte nicht ausmachen, was dieses Etwas, das mich so sehr beunruhigte, sein konnte. Ich konnte es nicht identifizieren. Ich war nur aus tiefstem Herzen verunsichert.
    »Ist er eigentlich böse zu dir?«, fragte ich.
    »Böse? Nein, eigentlich nie. Er ist nur böse zu sich selbst.«
    Ich hatte das deutliche Gefühl, dass ich immer weniger verstand.
    »Wie meinst du das?«
    Er starrte vor sich hin, ließ den Atem herausströmen.
    »Wirst du es niemandem sagen?«
    »Nein, aber…«
    »Versprochen?«, wiederholte er eindringlich.
    »Ja, versprochen! Nun sag doch, was macht er denn?«
    Giovanni fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, bevor sich seine Worte überstürzten.
    »Einmal bin ich zu ihm gegangen, weil ich Schularbeiten machte und ein Wort nicht richtig schreiben konnte. Und da habe ich vergessen anzuklopfen – und da stand mein Onkel, ohne Soutane und nackt bis zum Gürtel. Er schlug sich selbst, und sein Rücken war voller dicker, blutiger Striemen. Am Boden lagen Zeitschriften, die hatte er ausgebreitet, weil er nicht wollte, dass Blut auf die Fliesen tropfte und Clarissa die Flecken sah. Und du kannst dir sein Gesicht dabei nicht vorstellen, entsetzlich verkrampft und blass.«

    Ich fühlte eine neue Art von heftigem Erschrecken.
    »Das ist nicht wahr, das hast du geträumt!«
    Er hob feierlich die Hand.
    »Ich schwöre es. Ehrenwort!«
    Giovanni log nie, das war einfach eine Tatsache. Ich holte gepresst Luft.
    »Hat er dich gesehen?«
    »Ja. Eigentlich hätte ich sofort wieder gehen sollen. Aber ich war so erschrocken, dass ich gefragt habe, warum er das machte. Und da hat er gesagt: ›Ich mache das für Gott.‹ Wahrscheinlich hat er gemerkt, dass ich Angst hatte, denn er hat noch gesagt: ›Meine Schmerzen opfere ich Gott!‹, bevor er mich wütend hinausschickte. Ich war ganz durcheinander. Ich konnte mir nicht denken, dass Gott Freude an diesen Dingen hatte. Aber dann fielen mir die Märtyrer ein, die er mir immer als Beispiel vorführte. Vielleicht wollte er ihre Schmerzen am eigenen Leib spüren. Es kann ja sein«, setzte er verstört hinzu.
    Nach unserer Begegnung im Krankenhaus hatte ich Don Antonino ein- oder zweimal gesehen, wenn er in die Schule kam und sich mit den Lehrern unterhielt. Ich wusste, dass sie von Giovanni sprachen, die Lehrer nickten, machten wohlwollende Gesichter. Don Antonino sprach mit leichter, lustiger Stimme. Wurde er meiner ansichtig, lächelte er mir freundlich zu. In seinem Lächeln lag etwas Komplizenhaftes. Erwachsene taten manchmal seltsame Dinge. Aber dieses war etwas ganz anderes! Was für ein Mensch mochte Don Antonino sein, der die Dominanz des Geistes über die Sinne auf so grausame Weise an sich selbst weitergab? Ein Fanatiker, der blindwütig das Körperliche in sich bestrafte? Ich versuchte vergeblich, Don Antoninos hochgewachsene, noble Erscheinung mit dem unheimlichen Bild in Verbindung zu bringen. Wer oder was hatte ihm sein Doppelgesicht aufgezwungen? Wie alle Menschen, die besonnen sind und nicht genug Fantasie besitzen, glaubte ich Giovanni nicht ganz. Nicht, dass er mir etwas vorlog,
das kam überhaupt nicht in Frage. Es mochte aber sein, dass er geträumt hatte. Giovanni war dreizehn und keineswegs naiv; er war nur sehr betroffen. Ich war sehr behütet aufgewachsen, aber die Wärme der Kindheit hatte Giovanni nie erlebt. Er kannte nur Elend und Prügeleien, war es nicht einmal gewohnt, an der Kette einer Wasserspülung zu ziehen. Und wie es Träumen eigen ist, mochten sie ihm ein Schreckensbild zeigen, ein Menschengesicht, das im Dunkel weiß und blutig aufleuchtete …
    Wenn man jung ist, hat man den Eindruck, dass die Zeit ganz langsam vorbeischleicht; man lebt in den Tag hinein und denkt, dass morgen wie gestern sein wird. In Wirklichkeit steht die Zeit nie still, das Leben rinnt dahin in seiner gewohnten Art, nutzt ab, schlägt zu. Unmerklich, heimtückisch ändern sich die Welt und das Wesen der Geschöpfe. Das Schuljahr ging vorbei, Giovanni und Peter gehörten zu jenen, die die besten Noten schrieben. Peter, weil er mit den Mauern der Schule verwachsen schien, und Giovanni aus einer Art blindem, verbissenem Ehrgeiz heraus: Er wollte immerzu der Beste sein. In seine Bücher versunken, schien er von der Realität abgeschlossen. Mir warfen die Lehrer Unaufmerksamkeit vor, und Vivi leistete nur Mittelmäßiges.

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