Mondtaenzerin
Sinneseindrücke waren bei Vivi so ausgeprägt wie bei einem Tier. Wann war sie argwöhnisch geworden? Es hatte wohl begonnen, als sie zum ersten Mal Mirandas Geruch wahrnahm, dicht, süßlich und ölig. »Wie Kompost«, sagte Vivi. Als Miranda Großvaters Brief in den Händen hielt, strömte der widerliche Geruch aus all ihren Poren. Vivis Nackenhaare stellten sich auf. Sonderbar war, dass sie das früher nie gerochen hatte. Während sie noch unter Schock stand, fand sie, wie schon oft, einen Verbündeten in Alexis. »Ach, lass sie doch gehen und sich ein eigenes Urteil bilden«, sagte er friedfertig zu Miranda. »Sie ist ja schließlich alt genug.« Miranda starrte ihn an, als ließen sie die Worte in einen bodenlosen Schacht fallen, bevor sie kreischte:
»Misch dich da nicht ein, Alexis!«
Sie schreit wie ein Papagei, dachte Vivi. Der Geruch drehte ihr den Magen um. Sie riss Miranda das Flugticket aus der Hand, verdrückte sich in ihr Zimmer und versteckte es in einer Schuhschachtel, die sie im Schrank unter einem Berg alter Sachen verbarg. Sie traute es ihrer Mutter wohl zu, dass sie ihr die Tickets entwenden und dann mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt zu ihr sagen würde: »Woher soll ich wissen, wo sie sind, wenn du nie aufräumst?«
»Hat sie überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater?«, fragte ich.
»Das sagt sie nur so.« Vivi verzog das Gesicht. »In Wirklichkeit schreibt sie ihm wirre Briefe, bettelt darum, dass er ihr einen Teil ihres Erbes vorstreckt, damit sie die Pension instand setzen kann. Es sei schließlich seine Pflicht, ihr zu helfen. Aber der Alte beantwortet ihre Post nie. Mutter schimpft: ›Ich könnte den Geizkragen umbringen!‹ Sie sagt immer wieder, dass sie einen Rechtsanwalt einschalten will. Aber das ist nur eine Redensart; sie hat ja kein Geld.«
»Wie lange wirst du wegbleiben?«, fragte ich.
»Solange es mir Spaß macht.« Vivis schiefe Zähne blitzten. »Wenn ich mit dem Alten nicht auskomme, haue ich am nächsten Tag ab. Mein Ticket ist ja ›open‹.«
Vivi hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Die Ungewissheit gefiel ihr, im Geist war sie schon weit weg. Wir verabschiedeten uns mit einer flüchtigen Umarmung. Ich beneidete sie nicht; mir blieb auch kein Nachgeschmack. Ich hatte nur Giovanni im Kopf.
18. Kapitel
W ir trafen uns an der Bushaltestelle oder in der Eisdiele. Peter wollte immer, irgendwie, auf irgendeine Weise dabei sein, lief uns mit staksigen Schritten nach. Er blieb stehen, wenn wir anhielten, er ging weiter, wenn wir weitergingen. Er senkte den Kopf, wenn er unsere zwei Augenpaare auf sich gerichtet sah. Wir lachten. Er war unser Schatten, er gehörte dazu. Wir bildeten ein seltsames Dreigespann. Dass Peter Giovanni anbetete und sich deswegen verzweifelt und schuldig fühlte, empfand er im Nachhinein als Demütigung. Sprach er als Erwachsener davon, erweckte er den Eindruck, dass Giovanni ihn verführt hatte. Seine Lügen kamen mir sehr langweilig vor, weil ich mich an unsere Beziehungen und ihre Beschaffenheit lebhaft erinnerte und genau wusste, dass es in Wirklichkeit umgekehrt war. Ich kann nicht sagen, wann genau es anfing, aber es musste in diesem Sommer gewesen sein. Damals empfand Peter sexuelle Handlungen als Mutprobe. Er stürzte sich in die Schlacht, wo es keine Schlacht gab. Alles, was ihn befangen gemacht und was er als natürliche Ordnung hingenommen hatte, wollte er vergessen und Neues ausprobieren. Wir lebten mit solcher Intensität, weil die Jugend ihre geheimsten Wünsche vollkommen unbekümmert auszudrücken weiß. Aber so heftig und drängend sie auch sein mochte, sie verlor zu keiner Stunde ihren Glanz und ihre Unversehrtheit. Giovanni, der Peter wohl durchschaute, ließ sich von ihm berühren, nahm es weiter nicht ernst. Giovanni sagte zu Peter: »Leg dich hin!« Peter gehorchte, selbst wenn es ihn in seinen
eigenen Augen ein wenig lächerlich machte, und Giovanni streichelte ihn. Er wusste genau, worauf es ankam. Ich lag neben ihnen, und sie streichelten mich auch, etwas verwirrt, mit feuchtem Mund und glänzendem Blick. Peters Augen weiteten sich vor Staunen über das merkwürdige Gefühl, das er an sich wahrnahm. Er zitterte im Strom von Emotionen, weil er Dinge tat, die verboten waren. Es ging ihm durch und durch, kam über ihn wie Rausch und Verzückung. Giovanni und Peter anzusehen, war mir lieb, ich machte freudig mit. Unsere Finger und Lippen träumten, wir ließen den Wind durch unsere Liebkosungen fahren, rochen
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