Mondtaenzerin
Sie wurde vierzehn, ein spindeldürres, eckiges Ding, mit rot gefärbtem Haar und verschwommenem Blick, die sich oft auf die Toilette verdrückte, um zu rauchen. Zweimal wurde sie dabei ertappt, beim zweiten Mal wurde die Mutter herbeizitiert. Miranda kam, roch schlecht und stammelte in ihrer hochmütigen, kopflosen Art, dass sie das Mädchen nicht bändigen konnte. Vivi sagte zu ihrer Verteidigung, es sei wegen der Autos, die sie nachts nicht schlafen ließen. »Das ist doch absurd!«, widersprach Miranda. »Die Pension liegt weit weg von der Hauptstraße, den Verkehr hört man kaum.« Vivi blieb bei ihrer Behauptung. Ja, sie hörte jede Nacht Motorengeräusche, Räder, die kreischten, splitterndes Glas und Schreie. Miranda wurde
zunehmend wütend. »Das ist eine faule Ausrede, weil sie nicht lernen will!« Miranda missfiel dem Schulleiter, nicht zuletzt deswegen, weil sie einen Minirock trug, die nackten Beine übereinanderschlug und ihre Pumps an den Zehen baumeln ließ, als säße sie auf einem Barhocker. Er sah auch die Ringe um Vivis Augen und das nervöse Zucken um den Mund. Er hatte Erfahrung mit Pubertierenden. Aber weil er Miranda nicht mochte, verbarg er sein Mitgefühl hinter abweisender Kühle. »Schwierig manchmal zu wissen, was in den Kindern vorgeht«, meinte er. »Vielleicht sollte ein Arzt dem Mädchen ein leichtes Beruhigungsmittel verschreiben, irgendetwas, das ihr zum Einschlafen verhilft.«
»Jetzt sind Sie auf der falschen Fährte«, fauchte Miranda. »Vivi ist kompliziert, keine Rede von angenehm. Außerdem ist Vollmond, da dreht sie durch. Sie sollten sich über ihr Getue nicht wundern.«
Der Schulleiter hatte das Debattieren satt. Er erhob sich und beendete das Gespräch mit den Worten: »Einsicht gehört dazu in meinem Beruf. Ich denke an das Wohl der Kinder. Aber für ihre Leistungen muss ich geradestehen. Für ihr gutes Benehmen auch.«
Vivi sprach mit mir über die Sache. Eigentlich war der Schulleiter nett zu ihr gewesen, aber was er dachte, war ihr egal. Mich aber wollte sie davon überzeugen, dass sie, wenn der Vollmond schien, den Verkehr auf der Hauptstraße hörte. »Ehrlich, Alessa, das musst du mir glauben.«
»Nur bei Vollmond?«
»Ja, nur bei Vollmond.«
In den Nachtstunden fuhren wenige Autos vorbei, erklärte Vivi, und minutenlang lag die Straße still da, aber just in dem Augenblick, da sie hoffte einzuschlafen, bevor das nächste kam, hörte sie es schon. Oft saß sie voller Angst im Bett und wartete darauf, einen Zusammenstoß zu hören. Das Schlimmste war das Warten, die sich wiederholende Angst.
Und am Ende wurde sie so nervös, dass sie einen Unfall herbeisehnte. Er sollte doch endlich passieren, damit sie ihre Ruhe hatte! Schließlich meinte sie, dass sie einschlafen würde, wenn sie die Autos zählte. Das tat sie dann auch, stundenlang, bis der Mond hinter den Hügeln verschwand und sie bei Tagesanbruch einschlief.
»Es ist wirklich wahr!« Vivi machte einen elenden Eindruck. »Ich habe das nicht erfunden!«
Zeitweise schien sie eine Gewissheit zu besitzen und um eine Wahrheit zu wissen, die nichts mit der Zahl der Jahre und den Gewohnheiten der Logik zu tun hatte. Und heute, da ich die Geschichte kenne, weiß ich, dass Vivi in ihren Wachträumen die Wahrheit sah. Dass die in ihr wachgerufenen Erinnerungen ein Vorgefühl waren. Weil Vivi den Faden zu einer versunkenen Welt hielt, den einzigen, den es überhaupt noch gab. Aber damals wusste ich nichts und stellte nur die allerdümmste Frage:
»Und was kommt danach?«
»Danach?« Vivis unantastbare Überzeugung stand deutlich ablesbar in ihren Augen. »Danach kommen die Toten«, sagte sie.
Bei unserem nächsten Treffen erzählte sie mir, dass sie nach London fuhr. Der Großvater hatte sie eingeladen und ihr ein Flugticket geschickt.
»Miranda bekam einen hysterischen Anfall. ›Keinen Schritt tust du für den Kerl!‹, hat sie geschrien. ›Er sitzt auf seinen Millionen und lässt mich in der Scheiße wühlen. Du kennst ihn nicht, den alten Narren. Schreibe ihm, dass du nicht kommen wirst.‹«
Vivi wusste, dass Miranda ihren Vater seit über zwanzig Jahren nicht gesehen hatte. Als ob beide in unvereinbaren Welten lebten und er Miranda aus seinem Leben gestrichen hätte, der Enkelin aber eine Chance gab. Vivi entging von alldem nichts. Ihr Widerspruchsgeist erwachte. Der Großvater
wollte sie sehen, das war neu und aufregend. Miranda sprach ja nie darüber, warum sie sich so zerstritten hatten.
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