Mondtaenzerin
den vermischten Duft unserer Haut. Ich beobachtete diese Dinge, überwältigt von der Lethargie des Zuschauens, als sähe ich sie zum ersten Mal, als hätten meine beglückten Augen sie soeben erst entdeckt. Ich hatte ein triumphierendes Gefühl, ohne jeglichen Neid, denn Giovanni gehörte ja mir, sodass ich keinerlei Bedenken hatte, großzügig zu sein. In solchen Augenblicken – ich wusste es und war darüber nicht erstaunt – konnten wir einfach alles machen, was wir wollten. Und alles, was Peter bei Giovanni erproben und erfahren konnte, machte mein Glück noch besser, vollkommen. Denn Giovanni hatte seine eigene Art, Peter einzubeziehen, arglos, subtil, ein wenig belustigt, und war auf jeden Fall der Mittelpunkt. Die Rufe, das Lachen und das ferne Lärmen der Touristen drangen wie Böen zu uns. Wir hatten keine Scheu: Die Jugend ist eine ungehemmte Zeit. Wir feierten das Fest unserer Sinne unter dem Himmel mit seinem namenlosen Blau, bis unbemerkt und ganz leise die Nacht hereinbrach und auf der Theaterbühne des Lebens Don Antonino erschien, die Gestalt, die sich im Dunkeln verbarg und zunehmend hervortrat, von kreideweißem Licht umgeben. Da zerrissen die Feenschleier. Aber ich greife vor.
Zwischen Kindheit und Jugend liegen gefährliche Jahre. Ich war recht üppig geworden, und Mutter versuchte mich dazu zu bringen, einen Büstenhalter zu tragen. »Das ist doch unanständig,
dass man alles durch den Stoff sehen kann«, sagte sie. Ich wurde wütend: »Lass mich doch in Ruhe! Ich will bloß in Ruhe gelassen werden!« Doch Mutter gab nicht nach, behielt das letzte Wort. Der Büstenhalter war hübsch, eine teure Marke, doch ich kam mir schrecklich eingeschnürt vor. Ich hatte eine sehr schmale Taille, runde Hüften, lange Beine. Alle sagten, dass ich gut aussah, mit dem Büstenhalter sogar elegant, eine richtige junge Dame. Ich selbst aber fand mich plump und viel zu dick. Unversöhnliche Gegensätze rangen in mir um die Oberhand. Ich war noch nicht an meinen neuen Körper gewöhnt, schwankte zwischen Anorexie und Fettsucht. Ich studierte eifrig italienische Modeblätter, las jeden Klatsch, probierte Frisuren und Lippenstift aus, lackierte mir ungeschickt die Fußnägel. Dann fuhr Peter in die Ferien nach Sizilien – seine Mutter stammte aus Taormina, und ihre Eltern lebten noch dort. Ich dachte, jetzt hätte ich Giovanni ganz für mich. Doch dann wartete ich vergeblich auf ihn; er kam nicht. Das dauerte Tage, Wochen, er war einfach wie vom Erdboden verschwunden. Immer wieder rannte ich zur Bushaltestelle oder zur Gelateria, schleckte Eis, lief wie eine Irre umher, suchte ihn. Ich wartete, kein Echo, nichts, niemand mehr nirgendwo. Er war gegangen, er war fort. Ich sprach leise mit ihm weiter, zerbrach mir den Kopf vom Aufwachen bis zum Einschlafen, verkroch mich zu Hause in beleidigtem Schweigen. In dieser Zeit war auch mein Vater ganz anders als sonst, machte ein mürrisches Gesicht, hatte immer etwas an mir auszusetzen. Mutter schien sich auszuschließen, hantierte herum, mit abwesender Miene. Bei Tisch sprachen beide über meinen Kopf hinweg. Inzwischen stocherte ich in meinem Teller herum, träumte meine Träume und verstand in keiner Weise, warum Giovanni nicht kam und mein Vater mir unentwegt vorhielt, was sich gehörte und was nicht.
»Hast du dich geschminkt? Und warum? Trag doch etwas weniger Auffälliges!«, sagte er mit missbilligendem Blick
auf meine knappen Shorts. »Wohin gehst du?«, fragte er, sobald ich aus der Tür wollte. Ich ärgerte mich, antwortete patzig, rannte zornig aus dem Haus. Vorwürfe erwarteten mich auch, wenn ich nach Sonnenuntergang heimkam: »So spät? Wo warst du denn die ganze Zeit?« Vater fragte mit unerwarteter Schärfe. Er benahm sich wie ein arabischer Vater, der seine Tochter unter Schloss und Riegel hielt. Mutter war toleranter. »Ach, lass ihr doch ihre Freiheit, sie hat Ferien!« Die Stimmung war seltsam gedrückt, vielleicht empfand ich es auch nur so. Abends saßen die Eltern vor dem Bildschirm, Vater rauchte, der Geruch seiner Zigarette machte die Luft noch stickiger. Mutter hatte eine Näharbeit in den Händen oder trank Bier, der Biergeruch ekelte mich genauso an. Ich lümmelte auf dem Sofa herum, einen Kaugummi im Mund, ließ die Beine baumeln, hielt ein Kissen auf meinem Bauch wie ein Kleinkind. Trostsuche. Teilnahmslos starrte ich auf das bunte Geflimmer, dachte nur an die wilde Sehnsucht, die mich erfüllte. Vielleicht lag es an der unerträglichen
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