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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederica de Cesco
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später, einen Augenblick lang hätte ich das gleiche Gesicht wie sie gehabt. Meine Großmutter war Stein, Erde und Knochen, die ursprünglichsten und vornehmsten Materialien der Welt, und sie lebte in mir, wieder geboren, und vielleicht, wenn ich später mal Kinder haben sollte, in ihnen. Ich verstand jetzt alles besser und auch, warum ich so oft an Autounfälle denken musste, entsinnst du dich? Ich glaubte sie ja wirklich zu hören. Es gibt Nächte, in denen weit entfernte Geräusche, vom Wind getragen, viel näher erscheinen, Aber das war es ganz und gar nicht. Was ich da hörte und sah, waren Mirandas Albträume. Immer wieder hatte ich ihre Unruhe gespürt, ihren Angstschweiß gerochen. Ich begriff, warum sie Schlafmittel und Alkohol brauchte, um ihre Furcht unter Narkose zu halten.«
    Miranda musste etwas sehr Schlimmes angerichtet haben. Etwas, von dem ihr Vater noch heute nicht wollte, dass darüber gesprochen wurde. Und Viviane hielt sich an die Abmachung, redete geflissentlich um den heißen Brei herum, sprang andauernd von einem Punkt zum anderen. Ich hatte wirklich Mühe, ihr zu folgen.
    »Hast du mal gesehen, Alessa, wie alte Menschen weinen? Es ist so herzzerreißend! Ich als Kind habe ja die ganze Zeit geplärrt, aber das war überhaupt nicht dasselbe. Weint ein alter Mensch, ist es, als ob die ganze Welt weint. Und da schluchzte ich auch, ich konnte nicht anders, und es gab eine große Heulerei. Und dann nahm Großvater meine Hand in die seine, die sich ganz feucht anfühlte, und wir hielten unsere Hände über das Grab, und schluchzend sagte er zu mir: ›Versprich es deiner Großmutter, Viviane, versprich es ihr, wie du es mir versprochen
hast: Du wirst niemals Drogen nehmen oder dich betrinken!‹
    Und ich versprach es. Und an das Versprechen, das ich ihr gab, muss ich mich halten. Denn meine Großmutter war ja wie die Göttin, und die kann ich nicht belügen, nicht wahr, Alessa, das verstehst du doch? Und abends schenkte mir Grandpa diesen Ring, der früher Lavinia gehört hatte, den Ring, den sie trug, als sie starb, und den der Arzt ihr vom Finger gestreift hatte. Und weißt du was, Alessa? Die Geschichte hat noch ein Ende!«
    Ich starrte sie an.
    »Was für ein Ende?«
    Ihre dünnen Schultern zuckten.
    »Nun ja, um ganz genau zu sein, ist es ein Anfang!«
    Viviane sprach in der ihr eigenen unbekümmert unruhigen Art und blickte mich dabei an mit großen, traumbefangenen Augen.
    »Lavinia und Persea sind eine einzige Person. Verstehst du, was ich meine?«
    »Erst recht nicht«, sagte ich matt.
    »Macht nichts.« Viviane blieb ungerührt. »Ich weiß ja selbst nicht, wie ich dir das erklären soll. Ich habe schon immer so etwas geahnt, aber ich konnte es nicht aussprechen. Ich kann es auch heute noch nicht. Ich brauche Zeit. Es gibt noch so allerhand dazwischen…« In der heißen, hellen Sonne überzog mich plötzlich eine Gänsehaut. Ich dachte, gleich hat sie wieder einen Anfall, kippt von ihrem Stuhl und zuckt am Boden, oder sie benimmt sich wie eine Schlafwandlerin, die Dinge tut, ohne davon zu wissen. Und das mitten in der Stadt! Und die ganze Zeit, während ich mit Viviane sprach, dachte ich nur immer »Giovanni, Giovanni«. Ich glaube, dass Viviane und er sich darin glichen, dass beide einen starken Charakter hatten, dass sie Träumer waren, mit einer Prise Wahnsinn obendrein. Aber wo war der Zusammenhang? Ich wusste – ohne sagen zu
können, woher –, dass beide ihr Leben ohne Falsch einsetzten, dass sie die Wahrheit aus dem Herzen auf die Lippen treten ließen, ohne zu fürchten, dass jemand sie hören könnte, dem sie nur Anlass zu Gelächter gäbe.
    Ich schüttelte den Gedanken ab, der hierhin und doch nicht hierhin gehörte.
    »Und Miranda?«, fragte ich mit matter Stimme.
    »Miranda?«
    Viviane antwortete kalt.
    »Ich habe zu ihr gesagt: Du bist immer vor der Wahrheit davongerannt, du hast sie in Whisky ertränkt. Aber die Wahrheit ist immer da und springt dir ins Gesicht, wenn du es nicht vermutest.«
    Jetzt mache ich nicht mehr mit, dachte ich. Wenn sie einfach nur Dinge andeutete und doch nichts herauskam, sollte sie lieber aufhören.
    Ich kratzte verärgert meinen Eisbecher aus. Ich hatte großen Durst.
    »Kann ich einen Schluck von deiner Cola haben?«
    Viviane reichte mir das Glas. Ich trank einen langen Schluck.
    »Und was hat Miranda gesagt?«
    »Sie hat gesagt: ›Ich wusste doch, dass es eine Katastrophe gibt, wenn du nach London gehst. Aber ich konnte dich ja nicht davon

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