Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
Zärtlichkeit war schön. Auch wenn sie sich allmählich immer mehr von dem unterschied, was Georg und mich verbunden hatte.
Mir ist, als hätte ich damals wie in Trance gelebt und in gewisser Weise gar nicht gemerkt, dass Boris nicht Georg war. Ich wollte, dass er Georg war. Es war leicht, mich selbst zu täuschen. Zum einen deshalb, weil ich gewohnt war, Unangenehmes zu verdrängen, zum anderen aber auch, weil Boris Georg äußerlich so sehr ähnelte.
Es war Oktober geworden, bevor ich aus diesem Traum erwachte. Es war nicht Georg, wäre nie Georg gewesen, der mich in Papas Lederklamotten, mit Handschellen und nietenbesetzter Peitsche vergewaltigte. Es war Boris.
Jetzt erst war mir wirklich bewusst, dass Georg tot war.
XXXI
Wie oft habe ich schon unter Einsamkeit gelitten! Aber verlassener als nach der Erkenntnis, dass Georg nicht nur vorübergehend, sondern für immer aus meinem Leben verschwunden war, habe ich mich nie gefühlt.
Der Friedhof wurde mein liebster Platz. Ganz automatisch war mir von Anfang an die Aufgabe zugefallen, mich um das Grab zu kümmern. So wunderte sich niemand, dass ich oft bis tief in die Nacht hinein dort blieb. Im Schutz der Dunkelheit gewöhnte ich mir an, lange Gespräche mit meinem toten Bruder zu führen. Alles, was ich ihm während der letzten Monate seines Lebens verschwiegen hatte, erzählte ich ihm jetzt.
Ich erzählte ihm, dass wir Kinder unseren Vater seit der Beerdigung mit dem Vornamen anreden mussten, weil er künftig unser Kumpel und Freund sein wolle, dem wir voll vertrauen könnten. Ich erzählte davon, dass Boris und ich wie ein Ehepaar lebten.
Und ich erzählte ausführlich von den Nächten im Club. Von diesen Nächten, in denen mein Vater mich, nicht aber meine Mutter mitnahm und in denen er gemeinsam mit fünf, sechs anderen Männern und deren Partnerinnen zum Wettkampf antrat, wer von ihnen seine Frau als erster zum Orgasmus brachte. Wie wütend mein Vater war, dass er nie gewann! Wie er sich meiner schämte! Wie ich ihn blamierte, immer und immer wieder!
Dann sein Entschluss, es mit mir im Glaskasten vor aller Augen zu treiben. Zur Strafe und damit die Frauen der anderen Wettteilnehmer mir beibringen konnten, was ich von meinem lieben Vater partout nicht lernen wollte. Da Georg nie in dem Club gewesen war, beschrieb ich ihm den Glaskasten genau; die Schauwände mit den Gaffern ringsum, die Mikrofonanlage, die Geräusche von innen nach außen und von außen nach innen übertrug.
Am liebsten wäre ich gestorben, zu Georg geflüchtet. Er würde mich verstehen. Er kannte mich. Er wusste wie kein anderer, dass ich keine Chance hatte, nein zu sagen. Wie mit Magneten zog mich seine Brücke an, aber nachts, als ich davon träumte, wie es wäre, mich hinunter und in seine Arme zu stürzen, schien Georg mich anzusehen und den Kopf zu schütteln. »Du musst kämpfen«, sagte er, und ich hörte seine Stimme sehr klar. »Oder ich bin umsonst gestorben.«
Die Brücke zu meiden, war meine Art, den Kampf aufzunehmen. Das wusste ich damals aber noch nicht.
Das erste Weihnachtsfest ohne Georg ging irgendwie vorüber. Meine Familie tat, als hätte es nie einen schlaksigen blonden Jungen von fast 13 Jahren mit diesem Namen bei uns gegeben. Ich aber weinte um ihn und um mich, und es war mir gleich, wie viele Ohrfeigen ich dafür einfing. Blumen kaufte ich von meinem Weihnachtsgeld und Kerzen – doch die Blumen erfroren auf dem Grab, und die Kerzen wärmten nicht. Wie eisig musste es in der Erde sein!
Mir ist, als hätte ich damals, zwischen Spätsommer 1984 und Frühjahr 1985, nichts anderes empfunden als Georgs Tod. Was bedeuteten im Vergleich dazu meine Schulprobleme oder die immer häufiger und brutaler werdenden Übergriffe meines Bruders, der Sex mit meinem Vater und seinen Clubfreunden, die gemeinen Erpressungsmanöver meiner Mutter? Was bedeutete es, dass es mittlerweile ein ganzes Fotoalbum von mir und den perversesten Sexvarianten gab?
Vielleicht erhoffen Sie sich, lieber Leser, für dieses Buch ein Happy End. Doch das Buch kann keines haben – so wie mein Leben allenfalls in sehr ferner Zukunft eine gewisse Normalität wird erreichen können. Wer sich – so wie ich mittlerweile – mit Lebensläufen in der Kindheit missbrauchter Frauen beschäftigt hat, weiß, dass man das Ende des eigenen Missbrauchs nicht einfach beschließen und von heute auf morgen durchziehen kann, so wie etwa ein Raucher sein Laster aufgibt.
Georgs Tod war zwar ein Vermächtnis, ein
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