Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
beschreiben, wie meine Veränderung damals auf die Familie wirkte: »Als sie dich hinbrachten, sahst du aus wie einer dieser kleinen nackten Engel in Kirchen: überall Speckfalten und Grübchen und irgendwie aufgepustet. Deine Mutter nudelte dich ja auch. Wenn du bloß piep sagtest, gab sie dir gleich etwas zu futtern. Na ja, ich will nichts gesagt haben. Jedenfalls hatte ich immer den Eindruck, deine Füße wären zu klein für deinen Körper und würden dich wohl nie tragen. Aber die im Krankenhaus, die merkten wohl gleich, wo bei dir der Hase im Pfeffer lag. Du bekamst die ersten Tage bloß Nährlösung oder Heilnahrung, was weiß ich. Und dann setzten sie dich auf Diät. Kleine Kinder nehmen ja schnell ab. Als du so weit okay warst, dass du nach Hause durftest, warst du deutlich dünner geworden. Wir hatten dich in dieser Zeit ja nicht besuchen dürfen. Die Ärzte hatten es verboten, weil du so furchtbar geweint hast, als dein Papa wegging. Sie meinten, die Aufregung würde dich zu sehr belasten, und deine schwere Krankheit machte sie sehr vorsichtig. Daher waren wir, als du aus dem Krankenhaus kamst, völlig überrascht, wie sehr du dich in den paar Tagen verändert hattest.«
Tante Inge holte mich zusammen mit meiner Mutter ab. »Wir waren ganz aufgeregt«, erzählte sie mir immer wieder. »Wir also angeklopft, die Tür langsam auf – und da sahst du uns auch schon. Du hattest an einem Tisch gestanden und gespielt. Mit einem Mal fingst du an zu laufen, um den ganzen Tisch herum, auf uns zu. Und dabei riefst du ganz laut und ganz deutlich: ›Mama! Mama! Meine Mama!‹ Deine Mutter nahm dich in die Arme, und wir haben vor Freude geheult, alle drei.«
Von nun an sprach ich also. Statt einzelner Wörter bildete ich ganze Sätze. Dass ich stark lispelte und zeitweilig auch ins Stottern geriet, störte niemanden. Alle waren ja froh, dass ich überhaupt etwas sagte. Vielleicht glaubten sie auch, dass ich irgendwann von allein zu lispeln aufhören würde. Viele Kinder lispeln ja, wenn sie sprechen lernen.
Ich selbst empfand meinen Sprachfehler damals gar nicht als unangenehm. Denn mein Vater fand es unheimlich süß, wie ich sprach. Er ahmte mich liebend gern nach – was später zu meinem Leidwesen auf meine Brüder abfärbte –, und Sprüche wie »Moni, sag doch einmal: Süße Sahne!« waren bei ihm an der Tagesordnung. Wahrscheinlich hörte ich nur deshalb nie auf zu lispeln, weil mein Vater so viel Spaß daran hatte. Ich hätte alles getan, damit er mich liebt. Ich tat alles.
Wie gesagt, zu laufen begann ich damals auch. Ich war sicherlich ein Spätzünder, aber zurückgeblieben, wie meine Mutter mir immer vorwarf, war ich nicht. Alles, was ich zuvor versäumt hatte, holte ich jetzt nach. Ich war ein gesundes, strammes kleines Mädchen, neugierig auf die Welt.
Mein Vater war glücklich über meine Entwicklung. Anders als meine Mutter es geplant und erwartet hatte, war mein kleiner Bruder nicht an meine Stelle gerückt. Mein Vater hatte ihn zwar lieb und beschäftigte sich gern mit ihm, aber sein Liebling blieb ich. Mit mir konnte er ja nun auch schon so viel mehr unternehmen als mit dem kleinen Boris. Wie zuvor spielte und schmuste er mit mir herum. Wie zuvor war ich sein Engelchen.
Meine Mutter jedoch wurde immer abweisender mir gegenüber. Sie entdeckte, dass ihre Söhne tausendmal besser waren als ihre verblödete Tochter. Ihre Söhne waren weder fett auf die Welt gekommen noch zu faul, sich zu bewegen. Ihr Ältester war zwar unehelich geboren, und es war seine Schuld, dass meine Mutter Schiffbruch mit ihren Zukunftsplänen erlitten hatte. Aber er war gescheit und machte ihr keine Schande. Allmählich fand sich meine Mutter mit den an ihn geknüpften schweren Erinnerungen ab und entwickelte wohl neue Vorstellungen von ihrer Zukunft.
Ihr jüngster Sohn war sogar ein voller Erfolg; mit ihm durfte sie zufrieden sein. Es war nicht peinlich, sich mit ihm in der Öffentlichkeit zu zeigen. Immer wieder hörte sie, wenn jemand in den Kinderwagen schaute, das Kompliment: »Das ist aber ein strammes Kerlchen!« Ja, diese Söhne waren es wert, geliebt zu werden – von Anfang an.
Hinzu kam, dass meine Mutter schnell erkannte, dass Söhne ihr nicht den Rang ablaufen konnten. Wenn mein Vater einen von ihnen umarmte, empfand sie keine Verlustängste, keine Eifersucht. Sie sah dann nur einen zärtlichen Vater mit seinen Kindern.
Ich hingegen war kein Kind, ich war eine Frau. Da musste sie wütend sein und
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