Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter: Ein Mädchen wird von seiner Familie jahrelang misshandelt (German Edition)
Alternative aber war die ungeliebte Hausarbeit: kochen, bügeln, putzen. So ganz ohne Hoffnung auf bessere Zeiten!
Gleichgültig, was meine Mutter insgeheim dachte – ihr Bauch wurde dicker, die Schwangerschaft schritt voran. Meine Mutter gab alle Hoffnungen auf. Sie begriff, dass der Schmutz und die Erniedrigung ihrer Kindheit und Jugend sich nicht so einfach abstreifen ließen. Ihr Leben war verpfuscht, seit ihr Vater sie missbraucht hatte. Sie hatte alles versucht, es zu ändern. Nichts war gelungen.
Jahre später sagte meine Mutter einmal zu mir: »Frauen wie wir erreichen nichts im Leben. Das wirst du auch noch merken. Ich habe es irgendwie nie geschafft, da rauszukommen.«
Und sie führte aus: »Mich hat doch jeder bloß benutzt: mein Vater, mein erster Freund, mein Mann, andere Typen, fremde Weiber, sogar ihre Kinder. Jeder hat meinen Bauch benutzt. Und keiner hat gefragt, ob ich will. Jetzt ist es mir schon egal.«
Ich denke, dass meine Mutter sich in diesem November innerlich vom Leben verabschiedet hat. Ich kann es schlecht erklären. Sie versuchte nicht mehr, die Vergangenheit zu überwinden. Sie ließ sich innerlich fallen, wehrte sich nicht mehr. Sie nahm hin, dass man sie benutzt hatte, noch immer benutzte und weiterhin benutzen würde. Sie gab sich auf.
Die vierte Schwangerschaft setzte meiner Mutter hart zu. Wahrscheinlich ist es für keine Frau ein Zuckerlecken, innerhalb von vier Jahren drei Kinder zu gebären. Trotzdem gingen meine Eltern weiterhin so oft wie möglich abends aus und verteilten uns Kinder bei allen Verwandten, die Zeit für uns hatten.
An einen dieser Abende erinnere ich mich mit schrecklicher Klarheit. Es ging darum, wo man mich hingeben könnte.
»Wo soll ich denn hin mit ihr?«, schrie mein Vater seine Frau an und starrte wütend auf mich. »Meine Mutter kann sie nicht nehmen. Sie hütet die Kinder meiner Schwester. Die Patentante hat auch keine Zeit, weil sie ein krankes Kind im Haus hat. Und bei deinen Alten schläft sie doch nicht. Weiß der Geier, was die mit ihr anstellen!«
»Ich hab’s dir ja schon tausendmal gesagt!«, schrie meine Mutter zurück. »So wie du sie verwöhnst, ist es kein Wunder, dass sie dir auf der Nase herumtanzt. Und ich – ich muss dafür auf alles verzichten! Was hab ich denn von meinem Leben? Du bist den ganzen Tag unter Leuten, dir geht ja nichts ab. Aber ich? Ich kann hier verkommen. Das ist dir scheißegal! Hauptsache, dein Fräulein Tochter vergießt keine Krokodilstränen.«
Mein Vater steckte zurück. Zusammen mit meinen Brüdern packten mich meine Eltern ins Auto, und ab ging es in Richtung Essen. Still weinte ich auf dem Rücksitz vor mich hin.
»Die Moni heult!«, petzte Stefan prompt.
»Hör bloß auf, du verdammte Heulsuse!«, schimpfte mein Vater. »Oder willst du, dass ich rechts ranfahre und dir eine ballere, damit du auch Grund zum Heulen hast?«
»Ich heule ja gar nicht«, sagte ich und rieb mit den Fäusten meine Augen trocken. »Ich hab ja bloß etwas ins Auge bekommen. Bestimmt, Papa! Ich heule nicht, gar kein bisschen, Papa!«
»Und doch heulst du!«, zischte Stefan. Aber als ich ihm gegen das Schienbein trat, hatte er erst mal andere Sorgen.
Oma und Opa warteten schon auf uns.
»Da ist ja mein Prinzesschen!«, sagte mein Opa und nahm mich auf den Arm. Meine Eltern stiegen gar nicht erst aus dem Auto.
»Papa!«, kreischte ich. »Papa!«
Aber mein Vater schlug die Autotür zu und fuhr los.
Ich weiß nicht mehr, was an diesem Abend lief. Ich will es auch gar nicht wissen. So lange habe ich mich gegen die Erinnerungen gewehrt. So lange habe ich sie verdrängt, dass sie fast vergessen sind. Genauso vergessen wie der alte Mann, der nun schon so lange tot ist. Doch jetzt, beim Schreiben, quellen die Bildfetzen in mir auf: dieses schrecklich verzerrte alte Gesicht – dieses immer härter werdende Stinkding in meinem Mund – dieses Stöhnen – er stirbt, dachte ich, er stirbt – seine Hände, die mich festhielten, mir wehtaten – dieses »Lutschen, Moni, lutschen!«
Nein, ich halt’s nicht aus. Noch heute ist mir nach Schreien zumute, wenn ich daran denke, wie ich damals würgte und keuchte und spuckte und schrie, als ich endlich wieder Luft bekam, und wie der alte Mann sich befriedigt neben mir aufs Bett fallen ließ. Zufrieden, entleert.
Mir ist, als weinte meine Oma, während sie mich wusch. Aber vielleicht wünschte ich mir nur, sie würde weinen, damals, als sie meinen Mund eincremte – ganz vorsichtig,
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