Monkeewrench - 02 - Der Köder
Lücken.
Während der ersten dreißig Jahre seines Lebens hatte Langer aufmerksam den Geschichten gelauscht, die seine Mutter nie erzählte, hatte versucht, die leeren Orte zu sehen, die in ihren Blicken lebten, und sich gewünscht, dass sie ihm die schrecklichen Geheimnisse anvertrauen möge, die sie in sich trug. Alzheimer hatte schließlich ihre Zunge gelöst und seinen Wunsch erfüllt. In ihren letzten Monaten der sporadischen und zeitreisenden Erinnerungen vergaß sie, dass er ihr Sohn war, und entsann sich stattdessen des Grauens ihrer elf Monate in Dachau vor sechzig Jahren.
Überlege dir gut, was du dir wünschst.
Die Krankheit hatte zum endgültigen Schlag ausgeholt und sämtliche Erinnerungen außer denen an Dachau ausgelöscht. Ihr Verstand verbrachte seine letzten funktionsfähigen Augenblicke auf einer schmalen Pritsche aus splitterndem Holz und in stinkender Fäulnis, die den Geist zersetzte. Auf dem Stuhl an ihrem Bett konnte Langer nur noch weinen.
Morey Gilbert, Rose Kleber und Ben Schuler hatten diese Erfahrung mit ihr geteilt und ihr Schweigen bewahrt wie sie, aber vielleicht besaßen Gerechtigkeit und Moral für sie andere Parameter.
Er warf einen Blick hinüber zu McLaren, der mit verschränkten Armen an seinem Schreibtisch saß. Sein Gesicht wirkte verschlossen, wütend und traurig zugleich. Auftragsmörder, Nazi-Killer, für ihn war das am Ende kein großer Unterschied. McLaren hatte Morey Gilbert vergöttert. Der Gedanke, dass er aus welchem Grund auch immer jemanden getötet hatte, war ihm unbegreiflich.
Aber Langer glaubte es jetzt. Er verstand sogar, was die Gejagten veranlassen konnte, zu Jägern zu werden, hatte es in dem Moment verstanden, als er mit seiner Mutter Dachau durchlebte. Und es wurde ihm plötzlich bewusst, dass diese Fähigkeit zu verstehen wahrscheinlich sein Untergang gewesen war.
Er sah zu Magozzi auf. «Wenn ihr Recht habt, dann müssen McLaren und ich, um unseren Fall abzuschließen, nun beweisen, dass ein Mann, den wir sehr mochten, Arien Fischer getötet hat.»
«So ungefähr sieht's aus. Und Gino und ich brauchen diese Aufklärung ebenfalls, weil das, worin Morey und seine Freunde verwickelt waren, uns sicherlich Hinweise darauf gibt, wer sie getötet hat.»
«Irgendwie bearbeiten wir jetzt also denselben Fall.»
«Der Meinung sind wir auch.»
McLaren hing über seinem Tisch, den Kopf in seine Arme gebettet. Als er ihn hob, kam er Magozzi vor wie ein Junge im Kindergarten, der nicht aus seinem Mittagsschläfchen aufwachen mochte. «Ich weiß nicht, was ich mit alldem anfangen soll», sagte er. «Mein halbes Leben habe ich damit verbracht, die bösen Buben zu fangen, und ganz plötzlich kann ich nicht mehr sagen, wer eigentlich wer ist. Für mich war Morey Gilbert ein Idol.»
«Das war er für viele», erinnerte ihn Langer. «Er hat eine Menge Leben gerettet, Johnny.»
«Genau. Unter der Woche rettete er Leben, an den Wochenenden zog er los und brachte Menschen um. Damit habe ich ein kleines Problem. Wie viele Menschenleben muss man retten, um das Konto auszugleichen, das auf der anderen Seite einen Mord aufweist? Und das Schlimmste ist, ein Teil von mir sagt, okay, wenn es das war, was er getan hat, ich kann's verstehen. Er war in Auschwitz, Herrgott noch mal! Wer weiß, was er dort durchmachen musste? Vielleicht würde ich mich genauso verhalten. Und dann kommt der andere Teil in mir – der Detective vom Morddezernat – und kann einfach nicht glauben, was der erste Teil gedacht hat.»
«Im Moment musst du all das beiseite schieben, McLaren», sagte Gino. «Wir empfinden alle ähnlich wie du, aber wir müssen aufhören, uns um tote Mörder Gedanken zu machen, und stattdessen an den lebendigen Mörder denken. Der läuft nämlich noch irgendwo da draußen rum.»
McLaren seufzte und richtete sich dann auf. «Okay. Ich verstehe. Wie gehen wir weiter vor?»
Gloria hatte im Mittelgang gestanden und ihn mit ihrer großen schwarzen Gestalt ausgefüllt, aber zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie zugehört, ohne einen Kommentar abzugeben. McLaren, der bedauernswerte kleine Wicht, hatte sie überrascht. Erstens wirkte er zutiefst unglücklich, was auf echte Gefühle schließen ließ, und zweitens hatte er laut über seine Gefühle gesprochen und sich dadurch eine Blöße gegeben. Er hat ein so trauriges kleines Gesicht, wenn er niedergeschlagen ist, dachte sie. Sah gar nicht mehr so aus wie ein Kobold in einem Bilderbuch. Sie schlich sich leise zurück zum
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