Monkeewrench 04 - Memento
vordringen. Doch im Augenblick standen an der Straße, die Iris entlangfuhr, nur kläglich wenige Häuser mit ausgesprochen großen Abständen dazwischen.
Ihre Finger schlossen sich unwillkürlich fester um das Lenkrad, als sie an den langen Marsch durch die Kälte dachte, den die Anwohner dieser Straßen zurücklegen mussten, um Hilfe zu holen, falls sie heute von der Straße abkamen und mit der Nase voran im verschneiten Graben landeten. Hier in der Gegend gab es immer noch erstaunlich viele
Leute, allen voran die Alteingesessenen, die eine tief verwurzelte Abneigung gegen Handys hegten.
Als sie nach links in eine kurvige, schmale Straße abbog, spürte sie, wie die Räder des Explorers kurz durchdrehten, wieder griffen und dann gleich wieder durchdrehten, und sie fragte sich, ob sie wohl gleich am ersten Tag auf dem Weg zu ihrer neuen Stelle sterben würde. Links von ihr lag der Lake Kittering, etwa fünfzehn steil abfallende Meter unterhalb der Straße, die sich den Berghang emporwand. In spätestens zwei Monaten würde das schneeweiße Eis mit schwarzen Wasserlöchern übersät sein, Dutzenden offener Mäuler, die hungrig auf den nächsten Wagen lauerten, der sich mit der stark verbeulten Sicherheitsplanke anlegte und den Kampf verlor.
Der örtlichen Legende nach hatte die Straße, die den Kittering Hill hinauf zum Bezirksgericht führte, mehr Angeklagte auf dem Gewissen als jeder Richter. Iris Rikker neigte an diesem Morgen durchaus dazu, das zu glauben.
Als sie endlich oben angekommen war und der heimtückische Hang hinter ihr lag, hatte Iris allen Lippenstift von ihrer Unterlippe abgenagt und spürte ihre Hände nicht mehr. Langsam löste sie sie vom Lenkrad und bewegte die Finger, um den Blutfluss wieder in Gang zu bringen.
Sie schlitterte an dem zweigeschossigen Backsteinbau vorbei, der das Sheriffbüro und das Gefängnis beherbergte. Aus den Fenstern fiel gelbliches Licht nach draußen in die verschneite Dunkelheit. Iris warf einen raschen Blick nach links und fröstelte bei dem Gedanken, dass sie später in dieses Gebäude hineingehen und Leuten gegenübertreten musste, die heute als Untergebene des ersten weiblichen Sheriffs in der Geschichte dieses Bezirks aufgewacht waren. Zu dumm, dass sie nicht daran gedacht hatte, Doughnuts oder Plätzchen oder so etwas mitzubringen. Ohne ließen sie sie am Ende gar nicht herein.
Einen Häuserblock nach dem Bezirksgericht fiel die Straße plötzlich zum See hin ab. Sie endete ebenso abrupt, und Iris sah die kleinen Hütten auf dem Eis und vermutete, dass dort wohl die öffentliche Anlegestelle sein musste. Shorty's Garage entpuppte sich als grauer Metallbau im Häuserblock hinter dem Bezirksgericht, direkt am Ufer des Sees. Der Hof stand voll mit nicht zugelassenen Fahrzeugen in verschiedenen Stadien des Verfalls, darunter auch eine eisbedeckte grüne Rostlaube, die noch am Abschleppwagen hing wie ein hässlicher Hund an der Leine. Neben dem Auto stand ein ebenfalls eisbedeckter Dundas-County-Deputy.
Iris ließ den Explorer mitten in der Einfahrt stehen und stapfte durch den Schnee auf ihn zu.
«Rikker?», fragte er aus einer Kapuze hervor, die mehr als das halbe Gesicht verdeckte.
Iris verkniff sich die Antwort: «Ich Rikker, du Sampson» und fragte sich zum wiederholten Mal, warum die Leute hier in der Gegend so selten in vollständigen Sätzen sprachen. «Ja. Sind Sie Lieutenant Sampson?»
«Jep.»
«Ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt», sagte Iris und streckte ihm eine behandschuhte Hand hin, die Lieutenant Sampson allerdings entweder nicht sah oder geflissentlich ignorierte. Die Bevölkerung hatte ihr sieben Stimmen mehr gegeben als dem amtierenden Sheriff, aber es war ganz offensichtlich, dass die Deputys mit dieser Wahl nicht allzu glücklich waren.
Sampson schlug so nachdrücklich auf den Kofferraum der alten Rostlaube, dass Iris zusammenfuhr. «Lotteriewagen.»
Iris musterte das Autowrack im Schneetreiben mit zusammengekniffenen Augen. «Soll das ein Witz sein? Der Wagen da ist ein Lotteriegewinn?»
Er schnaubte oder seufzte, jedenfalls gab er ein Geräusch von sich, das Iris nicht näher deuten konnte. Vielleicht war es auch nur der Wind gewesen. «Hatte ich vergessen. Sie sind ja nicht von hier.»
Sie überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, dass sie schon ein ganzes Jahr hier im Bezirk lebte und ihre neuesten Keds-Schuhe noch nie städtisches Pflaster betreten hatten, entschied sich dann aber dagegen. An einem Ort wie
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