Monkeewrench 05 - Sieh mir beim Sterben zu
vor den Blicken derjenigen, die in ihren millionenschweren Eigentumswohnungen die Aussicht auf den Fluss genossen.
Sie folgten langsam der Schneise, die zahllose Füße zwischen die verwilderten Bäume und Sträucher geschlagen hatten. Man hatte es nie eilig, zum Fundort einer Leiche zu gelangen. Die Beamten, die hinter ihnen das Gebiet absperrten, erklärten, es sei eine Frau und noch «frisch», wie sie sich ausdrückten. Natürlich war das irgendwie sexistisch, aber man ging doch ganz anders an die Sache heran, wenn es sich um eine Frauenleiche handelte. Magozzi beispielsweise machte sich dann immer sehr viel mehr Vorwürfe. Er konnte sich einfach nicht von der machohaften Vorstellung lösen, dass Männer Frauen zu beschützen hatten, und betrachtete jede tote Frau als sein persönliches Versagen.
«Weißt du, was das Schlimmste ist?», brummte Gino auf dem Weg nach unten. «Das war vielleicht nicht mal ein Mord. Kein Bösewicht, sondern einfach nur ein weiterer blöder, sinnloser Unfall, der gar nicht hätte passieren müssen.»
«Morde müssten doch auch nicht passieren.»
«Ja, schon klar, aber bei einem Mord hat man wenigstens jemanden, dem man die Schuld geben und den man dafür hassen kann. Aber Unfälle? Dafür kann man nur das Opfer selbst verantwortlich machen oder allenfalls noch Gott. Sonst niemanden. Keine so richtig tolle Auswahl, wenn du mich fragst.»
Magozzi drückte zwei Finger an die Nasenwurzel, um die Kopfschmerzen abzuwehren, die ihm Ginos Gerede am Tatort regelmäßig bescherte. Mindestens zwanzig von vierundzwanzig Stunden des Tages dachte sein Partner nur an seine Familie und ans Essen, in dieser Reihenfolge. Doch kaum hatten sie es mit einer Leiche zu tun, fing er plötzlich an, die philosophische Trommel zu rühren, die dann wie ein Presslufthammer durch Magozzis Schädel dröhnte.
Unten am Fluss hielt ein uniformierter Polizist Wache, um den Fundort zu schützen. Dabei versuchte er krampfhaft, nicht auf jenes Ding zu schauen, das so gar nicht in den Fluss gehörte.
Die Leiche lag mit dem Gesicht nach unten im seichten Wasser. Sie trug ein weißes Abendkleid, das sich in der Strömung so sanft bewegte, als würde der Körper, der darin steckte, tanzen. Gino lief es bei dem Anblick eiskalt über den Rücken; er musste sich wehren gegen die Erinnerung daran, wie Angela, seine Frau, vor Jahren durch den Mittelgang der Kirche auf ihn zugekommen war. «O Mann», sagte er leise. «Ist das etwa ein Brautkleid?»
«Sieht ganz so aus», meinte der Uniformierte. «Aber man sollte doch denken, dass eine Braut von irgendwem vermisst wird.»
Nicht, wenn der Bräutigam auch noch im Fluss treibt , dachte Magozzi. Laut fragte er: «Haben Sie sie gefunden?»
«Ja, Sir. Officer Tomlinson. Der Weg am Fluss gehört zu meiner üblichen Runde.»
Der Junge gab sich redlich Mühe, eine harte Bullenmiene aufzusetzen, doch das Gesicht dahinter war noch völlig faltenlos, und den verstörten blauen Augen fehlte der abgeklärte Blick des erfahrenen Streifenpolizisten. Magozzi vermutete, dass er vor höchstens drei Tagen noch die Polizeischule besucht hatte. «Das ist aber ein ganzes Stück neben dem Weg.»
«Ich habe es zwischen den Bäumen weiß schimmern sehen, da bin ich runtergegangen. Ich dachte, es ist vielleicht ein Reiher oder so was …» Er hielt inne, schluckte und holte dann tief Luft. «Jedenfalls, der Gerichtsmediziner ist unterwegs, und mein Sergeant ist mit sechs anderen Beamten los, um die Anwohner zu befragen. Aber wenn sie wirklich hier ins Wasser gegangen ist, wird sie durch das Gestrüpp kaum einer gesehen haben.»
Magozzi nickte. «Wir könnten oben noch etwas mehr Absperrband gebrauchen, Tomlinson, und eine weitere Sperre nach beiden Seiten hin. Demnächst dürften die ersten Mittagsspaziergänger hier auftauchen. Können Sie sich darum kümmern?»
«Natürlich, Sir. Vielen Dank, Sir.» Der Junge konnte gar nicht schnell genug die Böschung hochkommen.
Gino vergrub die Hände in den Taschen und sah Magozzi mit schiefgelegtem Kopf an. «Das war ja ungewöhnlich nett von dir.»
«Er ist noch ein halbes Kind. Außerdem stand er schon die ganze Zeit allein hier.»
Eine sanfte Hand legte sich auf Magozzis Schulter, und er nahm unwillkürlich einen tiefen, reinigenden Atemzug, bevor er sich umdrehte und den Gerichtsmediziner mit einem Lächeln begrüßte. Es überraschte ihn kein bisschen, dass Doktor Anantanand Rambachan so geräuschlos hinter ihm aufgetaucht war, ohne die Umgebung
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