Monkeewrench 06 - Todesnaehe
würde seinen Vetter Moose zum Paddeln anstellen, während er selbst die reifen Körner abschlug und auf dem Boden des Kanus sammelte.
Anschließend würde das «alte Mädchen», wie er seine Frau, mit der er seit zweiunddreißig Jahren verheiratet war, liebevoll nannte, den Reis abwiegen, in Tüten packen und ihn an die beiden Tankstellen, die spärlichen Straßenstände für die Touristen und das Casino an der Nordgrenze des Reservats Elbow Lake verkaufen. Der Anteil, der ihnen vom Umsatz blieb, war dann ihr «Spielgeld» für dieses Jahr – nicht viel, aber jedes Mal genug für ein schönes Abendessen ohne schlechtes Gewissen und ein paar Runden Bingo im Golden Eagle.
Wobei es ihnen finanziell nicht einmal schlechtging. Aber wenn man vor über fünfzig Jahren als Indianer im Reservat aufgewachsen war – und das traf auf sie beide zu –, hatte man die Besonnenheit eines sparsamen Lebens praktisch mit der Muttermilch aufgesogen. Außerdem hatte man gelernt, wie wichtig es war, Traditionen fortzuführen, ob die Gründe nun rein praktische waren oder dem Stolz auf die eigene Kultur entsprangen und dem Willen, diese zu bewahren.
Der Chief ließ sein Paddel sinken und erzeugte damit im Wasser einen Strudel, der das Kanu langsamer werden ließ und schließlich zum Stehen brachte. So konnte er besser zusehen, wie die rosafarbenen Diamanten des Sonnenaufgangs ein makelloses Chromweiß annahmen, je heller es wurde. Gedankenverloren griff er in die dicht an dicht stehenden Reispflanzen, zog ein paar Samenkapseln näher zu sich heran und musste lächeln, als ihm ein paar längliche hellgraue
mahnomen
in die Hand rieselten. Es würde ein gutes Reis-Jahr werden.
Reis hatte in seinem Leben stets eine wichtige Rolle gespielt, die beste und die schlimmste; die Freude daran war ihm praktisch in die Wiege gelegt worden, der schlimme Teil kam erst später. Die schrecklichen Erinnerungen konnten das Glücksgefühl, das er jedes Jahr zu Beginn der Reisernte empfand, zwar nicht trüben, doch zugleich war das die einzige Zeit im Jahr, zu der er noch an den Krieg dachte, der nun schon so viele Jahrzehnte zurücklag. Er hatte versucht, die Erlebnisse zu trennen, sich aber dann doch damit abfinden müssen, dass sie untrennbar zusammenhingen. Zum Guten gehörte immer auch das Schlechte, und während die Sonne höher stieg und ihm die Schultern wärmte, reiste er zurück in eine andere Zeit, an einen anderen Ort.
Sein Krafttier war der Bär – «Mukwa» in seiner Stammessprache –, und in einer Septembernacht, als der Vollmond schien (der Reismond, wie sein Volk ihn nannte), war Mukwa plötzlich im Traum zu ihm gekommen, mitten in einem Reisfeld auf dem Weg nach Khe Sanh. Das erschien ihm bedeutsam und passend, auch wenn der Reis in Vietnam den Gräsern seiner Heimat nicht im Entferntesten ähnelte.
Mukwa blieb nicht lange, bevor er wieder in der Traumlandschaft verschwand – aber gerade lang genug, um dem Chief mitzuteilen, dass viele Wege in die Glücklichen Jagdgründe führten. Und beim Aufwachen wusste der Chief, dass er nicht in die Glücklichen Jagdgründe eingehen wollte. Zumindest jetzt noch nicht. Und er wollte auch nicht, dass sein Freund dort landete. Die Zeit war noch nicht reif, und das war auch nicht ihr Weg.
Er stieß den Mann an, der neben ihm schlief. «Claude.»
Doch Claude wachte nicht auf; er brummte nur unwillig und drehte sich auf dem feuchten, fauligen Boden ihres Schützenlochs auf die andere Seite.
«He, Chimook-Mann. Weißer Mann! Wach auf!»
Claude rührte sich immer noch nicht. Kein Wunder: Wenn er einmal schlief, hätte man ihm einen Gewehrkolben über den Kopf ziehen können und ihm damit allenfalls ein Zwinkern entlockt.
Also griff der Chief nach seiner Waffe, schlich vorsichtig bis zum Schutzwall und dann hinaus in den Dschungel, denn das Krafttier meldete sich nur zu Wort, wenn man eine Aufgabe zu erfüllen hatte …
Ein Schwarm appetitlicher Stockenten, der verflixt dicht neben ihm aus dem Schilf aufflatterte, holte ihn abrupt in die Gegenwart zurück. Er hätte seine Vogelbüchse mitbringen sollen.
Als er gegen Mittag wieder in seine Einfahrt einbog, war das alte Mädchen – ihr richtiger Name lautete Noya, eine Verbeugung vor den weit zurückliegenden, vermutlich während des Goldrauschs in Alaska geschlagenen Inuit-Wurzeln ihrer Mutter – damit beschäftigt, im Garten die letzten Herbstfrüchte zu pflücken. Gerade schnitt sie lange Strünke Rosenkohl ab und warf sie zu den
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