Monster
Sie ist beim Einkaufen, und jemand raubt sie aus, um an ihr Geld zu kommen. Aber welcher Junkie würde sich schon die Mühe machen, sie in Müllsäcke zu verpacken, dann zu einem halbwegs belebten Platz zu fahren und den Wagen dort abzustellen, wo er sie genauso gut an irgendeiner dunklen Ecke aus dem Auto hätte werfen können und den Rest der Nacht einen fahrbaren Untersatz gehabt hätte? Andererseits haben die meisten Kriminellen die Weisheit nicht gerade mit Löffeln gefressen … okay, sehen wir uns mal an, was sie noch hinterlassen hat.«
Er setzte die Durchsuchung des Schreibtisches fort. Das Geld fand sich in einem weißen Briefumschlag, der ganz hinten in der untersten Schublade lag. Neun Fünfzigdollarscheine unter einem schwarzen Terminkalender aus Kunstleder, einem Werbegeschenk eines Pharmaherstellers. Das gute Stück war drei Jahre alt und sämtliche Seiten unbeschriftet.
»Also hatte sie allenfalls fünfzig Dollar bei sich«, sagte er. »Wohl, um richtig einen draufzumachen. Mein Gefühl sagt mir, das hier war kein Raubüberfall.«
Ich bat ihn um die Kontoauszüge und ging sie Seite für Seite durch.
»Was ist?«, fragte er.
»Wie ein Uhrwerk. Exakt das gleiche Muster, Woche für Woche. Dass sie keine größeren Beträge abgehoben hat, bedeutet, sie hat nie Ferien gemacht oder sich mal irgendwas Ausgefallenes gegönnt. Die Tatsache, dass außer Gehaltszahlungen keine weiteren Eingänge vorliegen, deutet daraufhin, dass sie auch keinen Unterhalt bezieht. Oder dass der auf ein anderes Konto geflossen ist. Außerdem hat sie für die gesamte Dauer ihrer Ehe ihr eigenes Konto behalten. Was ist mit ihrer Steuererklärung? Haben sie sich gemeinsam veranlagen lassen?«
Er durchquerte das Zimmer und untersuchte die Dokumentenbox. Darin fand er die sauber abgehefteten Steuererklärungen für zwei Jahre. »Kein weiteres Einkommen außer ihrem Gehalt, keine weiteren abhängigen Angehörigen … nein, Einzelveranlagung. Irgendwie seltsam. Es ist, als würde sie leugnen, dass sie verheiratet war.«
»Oder sie hatte von Anfang an Zweifel.«
Er stand auf, einen Stapel zusammengehefteter Papiere in der Hand, und blätterte sie durch. »Gas- und Stromrechnungen … Ah, da ist die Kreditkarte … Visa … Damit hat sie Lebensmittel, Kleider, Benzin für den Buick und Bücher bezahlt… allerdings nicht sehr häufig - in der Regel drei bis vier Vorgänge pro Monat… immer pünktlich ausgeglichen, keine Zinsen.«
Ganz unten in dem Stapel befanden sich die Quittungen für die Autoversicherung. Niedrige Prämien für unfallfreies Fahren und weil sie Nichtraucherin war. Keine Leasingraten für den Wagen, also hatte sie ihn vermutlich auf einen Schlag bezahlt. Ohne zu wissen, dass sie sich damit einen Sarg auf Rädern gekauft hatte.
Milo machte sich Notizen und legte die Papiere wieder in die Box. Ich überlegte mir, was wir alles nicht gefunden hatten: Erinnerungsstücke, Fotos, Briefe, Postkarten. Nichts Persönliches.
Keine Belege für die Zahlung von Grundstückssteuern oder irgendwelche Ermäßigungen für Hypothekenzins. Wenn sie zur Miete wohnte, warum gab es dann keine Quittungen darüber?
Ich brachte das zur Sprache. Milo sagte: »Vielleicht hat ihr Ex-Mann die Hypotheken und die Steuern bezahlt. Anstelle von Unterhalt.«
»Und jetzt, wo sie weg ist, ist er fein raus. Und wenn er tatsächlich noch immer irgendwelche Besitzrechte an dem Haus hat, dann liegt ja ein gewisser Anreiz vor, wenn schon kein Motiv. Hast du eine Ahnung, wer die zweihundertvierzigtausend bekommt? Ist ein Testament aufgetaucht?«
»Bis jetzt noch nicht. Du tippst also auf den Ehemann?«
»Ich denke nur daran, was du mir immer sagst: Immer dem Geld nach.«
Er stieß ein Grunzen aus. Ich ging wieder zu dem Regal und zog ein paar Bücher heraus. Manche Seiten waren an den Ecken umgeknickt und mit fein säuberlichen Anmerkungen in Druckbuchstaben versehen. Fünf Jahrgänge von Brain, daneben eine gebundene Sammlung von Artikeln aus Fachzeitschriften.
Artikel, die Ciaire Argent geschrieben hatte. Ein Dutzend Studien, die sich alle mit der Neuropsychologie des Alkoholismus befassten und mit Forschungsgeldern des nationalen Gesundheitsdienstes finanziert worden waren. Ihr Schreibstil war klar, die Thematik wiederholte sich. Jede Menge Fachausdrücke, doch im Großen und Ganzen begriff ich, worum es ging.
Während des Studiums und in den darauf folgenden fünf Jahren hatte sie ihre Zeit damit verbracht, die motorischen und visuellen
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