Monster (German Edition)
weitverzweigte Gänge vor, verwunschene Stollen mit glitzernden Einschlüssen im Fels und staubigen Schlafstätten. Kathrin hatte ihm erzählt, dass dies einmal die tiefste Erzgrube der Welt war. Eine Silbergrube mit einem weiten Netz von Stollen, kilometerweise enge, dunkle Tunnel, in denen die Bergarbeiter manchmal Wochen schufteten und Tonnen von Gestein bewegten, bevor sie wieder ans Tageslicht kamen.
Nicht nervös werden.
Nicht unkonzentriert werden.
Nicht nachdenken.
Umgreifen, umsteigen.
Den rechten Fuß auf den linken Tritt.
Umgreifen, umsteigen.
Den linken Fuß auf den rechten Tritt.
Dann ist die Gruppe unten. Zehn Besucher und der Führer, ein alter Mann mit Händen, deren Innenseiten die graue Farbe der Felsen angenommen haben.
»Da wären wir«, sagt er und weist mit seinen Händen auf die Wände, »jetzt sind Sie ganz unten angekommen.«
Ganz unten, das ist eine rostige Wendeltreppe, die noch einmal drei oder vier Meter hinunterführt, noch feuchtere Steinwände, eine Stahltür mit einem Schild. »Lebensgefahr. Betreten verboten« steht darauf. Dahinter summt eine Maschine.
»Eine Turbine«, erklärt der Führer, »die versorgt unsere kleine Gemeinde mit Wasserkraft aus dem See, astreiner Ökostrom. Nicht immer ganz zuverlässig, aber wer ist das schon.«
Das war’s.
Ein Loch, eine Treppe, eine Tür.
Ein sehr tiefes Loch, zugegebenermaßen.
Der Führer steht in dem enttäuschenden Nichts unter der Erde und redet.
Kathrin hört gar nicht zu.
Benjamin sieht das.
Er sieht Kathrin an.
Er kennt diesen Blick von früher.
Aus dem Kindergarten.
Aus der Schule.
Sie lässt ihr Kinn auf die Brust sinken, als sei ihr Kopf mit einem Mal zu schwer geworden, und beginnt zu schluchzen. Benjamin nimmt Kathrin in den Arm und drückt sie an sich. Der Führer unterbricht. Die anderen Besucher drehen sich zu den beiden um. Zu dem merkwürdigen Pärchen.
»Ich weiß auch nicht, was ich erwartet habe«, sagt Kathrin leise.
Die Tour geht weiter. Die Gruppe wird zu der Wand auf der anderen Seite geführt, wo der Mann mit den Felshänden auf ein anderes Stück Steinwand zeigt. Immer wieder schaut er dabei zu den beiden hinüber. Er schaut, als hätte er schon öfter hysterische Abenteurer hier mit einer Winde von der freiwilligen Feuerwehr rauskurbeln lassen müssen. Er schaut, als gäbe es ein Problem.
»Machen Sie einfach weiter«, ruft Benjamin zu dem Grubenführer rüber. Benjamin spürt, wie Kathrin ihren Kopf fester an seine Schulter drückt.
Und dann legt er eine Hand auf ihren Po.
Wie ein Versehen.
Er hat nicht darüber nachgedacht.
Der Grubenführer guckt.
Der Grubenführer redet weiter.
Auf dem Heimweg
sprechen Kathrin
und Benjamin
nicht miteinander.
»›Mau‹, das macht fünf Punkte.«
»›Mauer‹, fünf, plus zwei, ... macht sieben Punkte.«
»›Mauern‹, sieben und eins. Acht Punkte.«
»›Uhr‹, vier Punkte, plus dreifacher Buchstabenwert beim R, macht sechs.«
»›Rege‹, fünf solide ... Punkte.«
»›Regen‹, sechs Punkte.«
»Nein, guck doch mal hin. Doppelter Wortwert. Du hast zwölf Punkte. Du musst genau hinschauen. Aber echt, schon wieder ein N. Wie viele von denen hast du denn noch? Du kannst nicht einfach überall ein N dranhängen. Das gehört sich nicht, Benjamin. Das ist so eine Art Scrabble-Kodex. So was tut man einfach nicht. Schau her: Ich benutze meinen Joker und lege ›Sinn‹. Das ist ein schönes Wort, da erhellen sich die Mienen der wahren Scrabble-Liebhaber, der Menschen, die das nicht nur für den schnöden Profit tun, sondern auch um der Poesie willen. ›Sinn‹ – ohne doppelten Wortwert und mit einem Joker für das zweite N – macht drei Punkte. So geht Idealismus.«
»So«, sagt Stephan, Kathrin nimmt das O von seinem Bänkchen und legt es unter ihr S auf das Spielfeld. Stephan kann seine Buchstaben nicht alleine hinlegen. Das würde ewig dauern. Deshalb muss er Kathrin bei sich reinschauen lassen.
»Ja, ich kenne seine Steine. Aber ich spiele so, als wüsste ich nicht, was er auf seinem Scrabble-Board hat«, hat sie gesagt. Benjamin hat selten so etwas Dämliches gehört.
»Sog«, sagt Benjamin und legt das G hinter Stephans Wort.
»Du scrabblest so destruktiv«, sagt Kathrin, »du musst schöner scrabblen. So macht es keinen Spaß.« Kathrin steht auf und geht.
»Aber ich hab doch nichts anderes«, ruft Benjamin ihr hinterher. Kathrin ist schon raus. Dann schlägt die Haustür zu.
»Nimm ... es ihr nicht ... übel.
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