Monster (German Edition)
und Wasser eingepackt und sogar noch einen Energydrink im kleinen Supermarkt im Dorf gekauft – nur für den Fall, dass er sich übernimmt. Außerdem hat er einen dicken Roman aus dem Bücherregal von Kathrin und Stephan genommen. Einen von denen, die man gelesen haben sollte. Vielleicht würde er bei seiner ersten Pause nach ein oder zwei Stunden Lust bekommen, ihn anzufangen. Auf einem Baumstumpf sitzend, um einen herum plaudernde Natur. Vielleicht würde er das Buch in ein paar Tagen auslesen, ganz und gar aufgehen im Sog der Geschichte.
Der Weg geht sich wie von selbst. Mücken und Fliegen suchen Benjamins Nähe. Sie wollen seinen Schweiß und sein Blut trinken, ihn aufnehmen in den eingeschworenen Kreislauf dieser entlegenen Welt. Er möchte jeder Fliege und jeder Mücke zum Dank die kleinen Klauenbeine schütteln.
Du glaubst, du genießt diese Wanderung, und dann machst du es wirklich. So einfach ist es manchmal. Alles eine reine Kopfsache.
Benjamin und die Natur unter sich. Er nimmt tiefe Waldluftlungenzüge. Er tankt die Luft. Er freut sich dumpf. Noch stundenlang so weitergehen.
Du fühlst ja, wie dein Geist sich öffnet. Wie du Teil von etwas wirst. Hier versteckt unter dem Blätterdach, das weißt du, wird etwas mit dir geschehen.
Der Weg öffnet sich zu einer Lichtung. Tische aus groben Holzbalken, metallene Mülleimer mit blauen Plastiktüten, Hinweistafeln für Picknickgäste. Benjamin ist noch nicht bereit, eine Pause zu machen, er will mehr von diesem Gefühl, will weiter einen Fuß vor den andern setzen, als er am Wegrand davor ein Schild sieht. Es behauptet, dass er am Ziel ist, dass er den Wanderweg zum Gipfel des Berges absolviert hat. Aber hier ist nichts, was zu einem Berggipfel gehört. Nichts Erhabenes, kein Plateau, kein Überblick, keine Aussicht. Nur ein Picknickplatz mit Bäumen, nur eine Wiese, ein fransiges Leck im Baumkronendach.
Du versuchst, dich zu orientieren, suchst nach einem Oben.
Die Lichtung überqueren und zwischen Bäumen einen schmalen Pfad, der steil nach oben führt, entdecken.
Es gibt ja immer ein Oben.
Du gehst schnell, du rennst den Weg fast hoch und direkt in eine Gittertür.
Ihr oberes Ende ist mit rostigem Stacheldraht gesäumt. »Fernmeldeturm. Betreten verboten« steht auf einem weiteren Schild. Hinter dem Zaun, auf einem erhabenen, nackten Felsen steht ein grauer Stahlmast, der sich Dutzende Meter in den Himmel reckt.
Hinaufschauen.
Du verstehst nicht. Du verstehst nicht, wie man Menschen hier hinschicken kann. Wie man diese Enttäuschung als einen offiziellen Wanderweg ausschildern kann.
Du fragst dich, ob es an dir liegt oder am Weg. Ob du falsch bist. Ob andere denselben Weg gehen, diesen Weg, der weder eine Tagestour ist noch auf einem Gipfel endet. Ob sie sich einfach so damit abfinden und glücklich in ihre Pensionen zurückmarschieren.
Du fragst dich, ob andere Menschen sich überhaupt vorher vorstellen, was sie von einem Gipfel erwarten.
Benjamin fühlt sich sehr einsam. Er denkt an Kathrins kalte Beine im Bett. An ihre Tränen auf dem Grund der Mine.
Als er wieder auf dem Platz ist, sitzt eine Familie an einem der Holztische und lädt Tupperdosen aus einem Wanderrucksack. Die Mutter breitet eine schwarz und rot gemusterte Picknickdecke aus.
»Seht ihr«, sagt der Vater zu seinen zwei Jungs, »war doch gar nicht so schlimm.«
Bäume. Sträucher. Ein Bach. Ein Himmel. Sonne. Bäume. Summen. Ein Weg. Ein Weg, der gegangen werden muss. Es braucht nicht viel, um der Welt die Zusammenhänge wegzunehmen.
Ohne dass du etwas dagegen tun kannst, pressen deine Kiefermuskeln die Zahnreihen zusammen. Eine Druckwelle, die über die Zähne und den Kieferknochen die Schläfen entlang hinter die Stirn wandert und deinen Kopf schmerzen lässt. Dein Blick klebt auf dem Weg knapp vor dir. Deine Fußspitzen drängen mit jedem Schritt in dein Sichtfeld.
Schnell gehen, immer schneller und schneller. Den Weg keines Blickes mehr würdigen. Enttäuscht sein von dem Weg.
Der Weg hat dich gedemütigt. Der Weg hat dich für dumm verkauft. Er hat dich nicht verdient.
In den Wald marschieren.
Benjamins Wanderschuhe rutschen auf umgestürzten Baumstämmen ab, die ihre Rinde schon vor Jahren verloren haben. Kräftige Baumwurzeln lassen ihn stolpern. Kantige Zahnreihen aus Schiefer schürfen seine Handballen ab.
Es braucht manchmal nicht viel, um aus einem Wald deinen Gegner zu machen, eine Gestalt zum Hassen, einen Widersacher zum Niederringen.
Äste
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