Monströse Welten 1: Gras
hatte, war es im Grunde sinnlos, weiterzumachen. Solange Heiligkeit die Herrschaft ausübte, gab es keine legale Möglichkeit, etwas Signifikantes zu bewirken. Jede Woche würde ein anderes Mädchen schwanger werden, Woche um Woche. Selbst wenn Marjorie sich in finanzieller und körperlicher Hinsicht verausgabte, hätte das auf Dauer keinen Zweck. War es überhaupt sinnvoll, sich mit dem Schicksal von Einzelpersonen zu befassen? Lily? Bets im letzten Monat? Dephine im vorletzten? Wenn die eine es nicht schaffte, dann eine andere. Welches Leben würde diejenigen denn erwarten, denen die Flucht gelang? Verstrickt in Unwissenheit und Ressentiments; vielleicht ein früher Tod…
Marjorie biß die Zähne zusammen und versuchte, die Contenance zu wahren. Sie könnte natürlich kündigen. Sie hätte Dutzende Entschuldigungen für den Vorstand parat gehabt, die allesamt plausibel gewesen wären. Aber sie hatte dieses Amt nun einmal übernommen, und es wäre eine Sünde gewesen, es einfach niederzulegen…
Sie schüttelte heftig den Kopf und zwang den Gleiter in den Sturzflug. Das Plärren des Warntons aus der Konsole brachte sie wieder zur Besinnung. Es wäre besser, an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel an die Kinder: Tonys Pläne. Stellas Launen. Sie würde an etwas anderes denken, und wenn es an Rigo und seine Mätresse wäre. Mätressen. Plural. Sequentiell.
Der Gleiter verließ die Flugschneise und überflog die Grenze des Anwesens. Beim Passieren der Ställe kämmte sie sich durch das Haar und betete, daß Rigo nicht zu Hause war und sie ausfragte, wo sie gewesen wäre und was sie gemacht hätte. Sie war zu müde und deprimiert für einen Streit. Sie hatte etwas Bedeutendes leisten wollen, ein Zeichen setzen, und sie war gescheitert; das war alles. Es war ein honoriges Anliegen gewesen, und Rigo hatte kein Recht, ständig eine Erklärung von ihr zu verlangen. Zumal sie sich nun selbst nicht mehr sicher war.
Vielleicht hatte Rigo doch recht gehabt. Vielleicht hatte sie wirklich eine Heilige sein wollen. Und wenn dem so war?
Sie mußte lachen; eine Träne quoll ihr aus dem Auge, als sie den Gleiter parkte und im Sitz zusammensank. Sie fragte sich, was man heute als Heilige wohl alles zu tun hätte. Dann wischte sie sich die Tränen ab und sammelte sich, bis ihr plötzlich bewußt wurde, daß sie nicht die Contenance wahren mußte, daß sie nicht die starke Frau spielen mußte, daß sie sich überhaupt nicht verstellen mußte. Nun würde sie Rigo zum erstenmal keine Rechenschaft ablegen müssen. Vor heute abend würde er ohnehin nicht nach Hause kommen. Heute war der Tag, da Roderigo Yrarier, der treue Altkatholik und zuverlässige Sohn der Kirche, das Undenkbare getan hatte. Er hatte einer Vorladung nach Heiligkeit Folge geleistet.
Hundert goldene Engel zieren die Turmspitzen von Heiligkeit, mit ausgebreiteten Flügeln und erhobenen Trompeten. Von innen beleuchtet wirken sie wie hundert Sonnen. Die schwindelerregend hohen Kristalltürme von Heiligkeit schmiegen sich in einem Feuerwerk funkelnder Fassaden aneinander, vor dem Hintergrund eines dunklen, leeren Himmels. Tag und Nacht dienen sie als Leuchtturm und Wegweiser – so spricht Heiligkeit – für die große Diaspora der Menschheit, die über die Welten in der Weite des Alls verstreut ist.
Sie dienen auch als Boje für die Ausflugsschiffe, die in einer Höhe von fünfzig Kilometern über der Requisite hängen und hinter deren Fenstern sich die Beobachter drängen. Aus Furcht vor einem nicht näher spezifizierten Unfall müssen die Schiffe einen Mindestabstand von fünfzig Kilometern einhalten.
Das reicht gerade, daß die Touristen die großen Engel auf den Turmgiebeln erkennen und die in Leuchtbuchstaben geschriebenen Worte lesen können, die auf Spiegel an den höchsten Mauern projiziert werden.
Heiligkeit. Einheit. Unsterblichkeit.
Obwohl man aus dieser Entfernung mit dem bloßen Auge keine Details erkennt, ist ein näherer Blick auf Heiligkeit unmöglich. Für alle Welten befindet Heiligkeit sich für immer am Horizont von Terra, wahrnehmbar und doch entrückt, heilig und unnahbar, zugänglich nur für die Erwählten: die Hierophanten, die Servitoren, die Ministranten. Wenn ein männlicher Fremder diesen Ort besuchen will (Frauen sind von vornherein nicht zugelassen), muß er sich zuerst die notwendigen Papiere besorgen. Nachdem man sich dann davon überzeugt hat, daß er auch wirklich männlichen Geschlechts ist, muß er diese Papiere
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