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Monströse Welten 1: Gras

Monströse Welten 1: Gras

Titel: Monströse Welten 1: Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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vorzeigen, um sich innerhalb eines bestimmten Radius unter Aufsicht in der umgebenden Landschaft bewegen zu dürfen. Je nach Lust und Laune werden die Wachen ihm dann einen Passierschein ausstellen, der ihn durch stille Tunnel zum Empfangsbereich bringt, der sich in gebührender Entfernung des geschützten Herzens von Heiligkeit befindet.
    Bei diesem Herzen handelt es sich um die unterirdische Residenz des Hierarchen deroselbst, weit unter den mit Engeln bestückten Türmen und durch achthundert Meter Erdreich und Fels von allen nur denkbaren Unbilden geschützt. Die Hierophanten des höheren Dienstes bewohnen in der Nähe gelegene Appartements. Darüber befinden sich die Maschinenräume, dann kommen die Kapellen, und erst dann die Endstation und der Empfangsbereich. Die untersten Stockwerke der Türme beherbergen die Suiten der Servitoren und Geistlichen niederen Ranges. Je höher in der Hierarchie man angesiedelt ist, desto tiefer steht man auf der infrastrukturellen Leiter. Je höher man sich befindet, desto weiter ist nämlich der Weg zu den Kapellen und Tunnels, in denen die Rituale von Heiligkeit vollzogen werden. Je weiter oben man lebt, desto geringer ist das Ansehen. Ganz oben, in Kontakt mit den Wolken, leben die eifrigen Konvertiten, deren Intellekt zu schwach ausgeprägt ist, als daß man sie mit anspruchsvollen Aufgaben betrauen könnte; die Alten, die dem Vergessen anheimgegeben werden; die zwangsverpflichteten Ministranten, die lustlos ihre Dienstzeit abreißen.
    Und hier, im obersten Stockwerk des höchsten Turms, verlebt Rillibee Chime seine dienstfreie Zeit, wobei er meditierend in der umwölkten Stille hockt und zölibatäre Nächte auf der Pritsche verbringt, ohne daß angenehme Träume ihm das Dasein versüßen würden. Hier steht er des Morgens auf und wäscht sich, hier schlüpft er in die weichen Schuhe, zieht, eine saubere weiße Kutte mit einer eng anliegenden Kapuze an und pudert sich das Gesicht, um jedwede unzüchtige Farbe zu kaschieren. Während dieser Verrichtungen beobachtet er die Vögel, die in einer präzisen V-förmigen Formation gen Süden fliegen, in die warmen Länder, in Rillibees Heimat. Heiligkeit ist am Rande der Eiswüste errichtet worden, um sich sowohl von den Niederungen des weltlichen Alltags zu separieren als auch der Natur den Platz zu lassen, den sie für ihre Regeneration braucht. Hinter den funkelnden Türmen liegt in der Kälte die arktische Tundra und das Eis, seit Jahrhunderten unberührt.
    Die Kälte ist indessen kein Thema für Heiligkeit. In den Türmen herrscht eine konstante Temperatur. Weder Regen noch Schnee fallen in diesen stillen Korridoren. Es gibt keine Vegetation. Es gibt auch keinen Tod. Wenn Rillibee ernstlich erkrankte, würde man ihn einfach wegspiritualisieren, und ein anderer Ministrant würde seine Zelle beziehen, seine Arbeit tun und den Gottesdienst verrichten. Niemand würde zur Kenntnis nehmen, daß der eine gegangen und ein anderer gekommen ist. Eine Nachricht würde an seine Eltern oder Verwandten geschickt werden, sofern er noch welche hatte; mehr Aufhebens würde aber nicht gemacht werden von der Sache. Obwohl die Doktrin lehrt, daß die erbauliche Existenz von Heiligkeit auf der Unsterblichkeit der Person fuße, wird keine Personalität zugelassen – zumindest nicht auf Rillibees Niveau. Heiligkeit wird nur von ein paar Personen repräsentiert: dem Hierarchen, Carlos Yrarier, dem Abteilungsleiter Missionen, Sender O’Neil und dem designierten Hierarchen. Rillibee wird für immer ein Niemand bleiben.
    Manchmal sagt er seinen Namen in einer stummen Litanei auf, um sich an seine Identität zu erinnern; er klammert sich an sein Selbst, das Selbst, das ihm vertraut war, das Selbst mit Erinnerungen und einer Vergangenheit und Menschen, die er einmal geliebt hatte. Manchmal schaut er auf den benachbarten Turm und versucht, hinter der glitzernden Fassade eine Person zu erkennen, jemand anders, jemanden mit einem anderen Namen, und er kämpft die Schreie nieder, die sich seiner wie zugeschnürt wirkenden Kehle entringen möchten.
    »Ich bin Rillibee Chime«, flüstert er im Monolog. »Geboren inmitten der Kakteen der Wüste. Vögel und Eidechsen waren meine Gefährten.« Er erinnert sich an die Vögel und Eidechsen, die Formation der Enten in der Luft, die auf einem heißen Rost gebackenen Fladenbrote, den Geschmack der leckeren Bohnen, das Bild von Miriam und Joshua Songbird, vor langer, langer Zeit. »Noch zwei Jahre«, flüstert er.

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