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Monströse Welten 1: Gras

Monströse Welten 1: Gras

Titel: Monströse Welten 1: Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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»Nur noch zwei Jahre.«
    In zwei Jahren ist seine Dienstzeit beendet. Nicht daß er von seinen Eltern verpflichtet worden wäre, so wie die Söhne der Geheiligten verpflichtet wurden. Nicht daß er versprochen worden wäre, damit seine Mutter die Erlaubnis erhielt, einen Sohn zu gebären.
    Nur bei den Geheiligten war es üblich, daß die Frauen ihre Söhne für einen jahrelangen Dienst bei Heiligkeit verpflichteten, und Rillibees Leute besaßen nicht den Status von Geheiligten. Nein, Rillibee war eingezogen, adoptiert und verpflichtet worden, weil es niemanden gab, der die ehrgeizigen Lakaien von Heiligkeit an die Kandare nahm.
    Noch zwei Jahre, sagt Rillibee sich, falls er solange durchhält. Und wenn nicht? Manchmal stellt er sich diese Frage, wobei er Angst vor der Antwort hat. Was geschieht mit denen, die ihre Dienstzeit nicht durchhalten? Was geschieht mit denen, die es nicht schaffen, die Schreie zu unterdrücken, die sprechen oder schreien oder fluchen, so wie er fluchen möchte?
    ›Verdammt‹, hatte der Papagei vor langer Zeit zu Miriams Belustigung gesagt. ›Verdammte Scheiße.‹
    »Verdammt«, flüstert Rillibee nun.
    ›Laßt mich sterben‹, hatte der Papagei dann gesagt. Das hatte niemand mehr lustig gefunden.
    »Laßt mich sterben«, sagt nun auch Rillibee und streckt die Hände zu den sechsflügeligen Seraphen auf den Türmen aus.
    Nichts geschieht. Obwohl er sie wiederholt dazu aufgefordert hatte, strecken die Engel ihn nicht nieder.
    Jeden Tag verläßt er seine Zelle und tritt an die Rutschbahn. Er betrachtet sie für einen Moment und fragt sich, ob er wohl den Mut aufbringen würde, auf sie aufzuspringen. Als er zum erstenmal nach Heiligkeit kam, wurde er hinuntergestoßen, immer wieder, und er hatte das Gefühl eines endlosen Falls. Er bekam eine Gänsehaut, und der Magen wollte ihm schier zur Nase herauskommen. Das ist nun schon zehn Jahre her, aber bei dem Gedanken, auf die Rutschbahn aufzuspringen, entfährt ihm auch heute noch ein mentaler Schrei. Er hat indes eine akzeptable Alternative gefunden. An der Innenwand der abgrundtiefen Rutschen befinden sich massive Metallsprossen für das Reinigungs- und Wartungspersonal. Dreihundert Meter in die Tiefe. Dreihundert Meter in die Höhe. Rillibee bewältigt diese Strecke jeweils einmal am Tag, wobei er früh aufsteht, um nicht in Zeitnot zu geraten.
    Nach dem Abstieg wartet das Refektorium auf ihn. Seit zehn Jahren sucht er nun schon täglich das Refektorium auf, seit er zwölf Jahre alt war; aber er muß noch immer den Hustenreiz unterdrücken, der ihn beim Geruch des Frühstücks befällt. Refektorium. Es stinkt permanent nach ekelhaft schmeckendem Mampf. Er verzichtet auf das Frühstück.
    Statt dessen setzt er den Abstieg zu seinem Arbeitsplatz fort und sucht auf der beleuchteten Anzeigetafel seine Nummer unter tausend anderen heraus. RC-15-18.809. Klerikale Dienstleistungen für den Hierarchen. Cleric-all erforderlich. Besucherführung. Drittes Untergeschoß, Raum 409, 1000 Stunden.
    Der Hierarch. Merkwürdig, daß ausgerechnet ein so jugendlicher und rangniederer Mitarbeiter wie Rillibee als Adjutant des Hierarchen abgestellt wird. Andererseits ist das überhaupt nicht so merkwürdig. Er ist nämlich nur ein Rädchen im Getriebe von Heiligkeit, das nach Belieben austauschbar ist. Es gehört nicht viel dazu, einen Besucher zu führen oder einen cleric-all zu bedienen.
    Die nächsten zwei Stunden wird sein Körper nicht gebraucht werden. Diese Zeit hat er zur freien Verfügung. Zeit, ins Magazin zu gehen und sich einen cleric-all besorgen. Zeit, ins Kommissariat zu gehen und sich etwas zu essen zu kaufen, das diese Bezeichnung auch verdient. Zeit, in die Bibliothek zu gehen und sich ein unterhaltsames Buch auszuleihen. Er fürchtet sich vor menschlicher Gesellschaft. Wegen der Einsamkeit und Frustration würde er jeden Moment anfangen zu weinen. Er schluckt und versucht, diese deprimierenden Gefühle zu unterdrücken, aber sie wollen einfach nicht weichen.
    Unter diesen Umständen sucht er besser einen weniger belebten Ort auf. Er setzt den Abstieg bis zur Kapellenebene fort und schreitet langsam den Korridor ab, wobei er eine Kapelle nach der anderen passiert und das stetige Summen der Lautsprecher über den Altären vernimmt. Schließlich betritt Rillibee die nächstbeste Kapelle. Er nimmt Platz und stöpselt sich den Ohrhörer ein, der das mückenartige Summen zu einer verständlichen Sprache verlangsamt. »Artemus Jones«, dröhnt eine

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