Monströse Welten 1: Gras
würde vielleicht auch überleben, wenn man rechtzeitig ein Gegenmittel fand. Und Stella auch. So, wie Rillibee Stella angesehen hatte, hatte sie vielleicht eine Chance. Wenn sie schon nicht ewig leben würde, so wäre ihr zumindest die Lebensspanne einer Sehr Kleinen Entität gewiß.
Sie trat wieder ans Fenster und schaute zur großen Scheune hinüber, die jenseits des Schlachtfeldes lag. Die Pferde! Die Scheune, in der sie untergebracht waren, war zwar stabil, aber nicht unzerstörbar. Sie war mit dem Hotel über ein Tunnelsystem verbunden. Dieses System erstreckte sich unter der ganzen Stadt. Vielleicht gelang es ihr, die Scheune zu erreichen. Sie kramte in der Jackentasche und fand das Peilgerät, das Bruder Mainoa ihr wiedergegeben hatte.
»Der Seraph hat ein paar Mann in der Stadt stationiert«, sagte der Soldat.
»Was wollen sie denn da?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Der Seraph ist in gewisser Weise ein Konservativer, Ma’am. Der Cherub hat das ein paarmal gesagt. Er wird bis zum Morgen abwarten und dann einen Angriff starten. Bis dahin wird auch vom Schiff Verstärkung eingetroffen sein.«
»Die Hippae sind durch mindestens einen Tunnel gekommen«, sagte Marjorie. »Man müßte ihn sprengen, fluten oder was auch immer.«
»Wissen die Leute in der Stadt das?« fragte er. Sie nickte, und er sagte: »Dann werden sie es dem Seraphen sagen, und der wird sich darum kümmern. Vielleicht schon heute nacht, wenn er einen Kampfgleiter bekommt. Die Seraphim werden auf Schritt und Tritt von einem Einsatzkommando begleitet. Diese Kommandos sind bestens ausgerüstet.«
»Würde er eine solche Truppe auch in der Stadt stationieren?« fragte sie ungläubig.
»Überall«, erwiderte er nüchtern. »Sie folgen ihm sogar auf die Toilette. Damit will er verhindern, daß ihm während seiner Abwesenheit sein Kommando streitig gemacht wird. Zum Beispiel durch eine Meuterei.«
»Meuterei?« ertönte eine verärgerte Stimme von der Tür. Dort stand Rigo, barfuß und mit nacktem Oberkörper. »Was geht hier eigentlich vor?«
Marjorie trat vom Fenster zurück. Er sah hinaus.
»Sie sind durchgebrochen«, stellte er fest. »Der junge Mann und ich haben im Hotel den Strom abgeschaltet«, sagte sie. »Sie werden nicht heraufkommen, es sei denn, es gibt Treppen, von denen ich nichts weiß. Das bedeutet aber auch, daß wir hier festsitzen. Vorerst jedenfalls.« Im Grunde glaubte sie nämlich nicht, daß sie es überleben würden, aber sie sprach es nicht aus.
Mit ausdruckslosem Gesicht schaute Rigo aus dem Fenster. »Hippae«, bemerkte er überflüssigerweise. »Wie viele?«
»Jedenfalls genug, um großen Schaden anzurichten«, erwiderte Marjorie. »Bei etwas über achtzig habe ich aufgehört zu zählen; es kommen ständig welche nach.«
»Würden Sie bitte nach draußen gehen«, wandte Rigo sich an den Soldaten. »Ich möchte mich mit meiner Frau unter vier Augen unterhalten.«
»Nein«, sagte sie. »Er kann ruhig hierbleiben. Wenn er auf den Korridor geht, hören oder riechen sie ihn vielleicht. Womöglich gibt es noch einen anderen Weg nach oben, und es hat keinen Zweck, sie herzulocken. Wenn du reden willst, tun wir das in deinem Zimmer.« Sie ging vor ihm her, derangiert, ungekämmt und dennoch herrschaftlich. In Rigos Zimmer setzte sie sich auf einen Stuhl, während er umherlief, drei Schritte vor, drei Schritte zurück.
»Während du fort warst«, eröffnete er, »hatte ich die Gelegenheit, mit Vater Sandoval die Lage zu erörtern. Ich glaube, wir müssen über unsere Zukunft sprechen.«
Sie spürte Mitleid und einen Anflug von Verärgerung. Das war typisch für ihn, über ihre Zukunft sprechen zu wollen, wo es vielleicht gar keine Zukunft mehr für sie gab. Er hatte immer schon dazu geneigt, den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt für derartige Unterhaltungen auszusuchen. Als ob Emotionen wie Liebe und Vertrauen überhaupt keine Gefühle wären, sondern nur Symbole oder Werkzeuge, die als Mittel zum Zweck dienten. Als ob die Worte selbst schon der Schlüssel zu einem Schloß wären. Sprich von Liebe, und Liebe ist da. Sprich von Vertrauen, und Vertrauen ist da. Sprich von der Zukunft…
»Was soll mit unserer Zukunft sein?« fragte sie emotionslos.
»Vater Sandoval geht mit mir konform, daß ein Gegenmittel gefunden wird«, sagte er mit der Autorität eines Richters, als ob diese Annahme durch die bloße Artikulation schon zum Faktum würde. Nun, bisher hatte Rigo mit dieser Technik auch immer Erfolg
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