Monströse Welten 1: Gras
gehabt. So hatte er mit seiner Mutter gesprochen, seinen Schwestern, mit Eugenie und den Kindern und nicht zuletzt mit Marjorie selbst. Und wenn es wider Erwarten nicht den gewünschten Erfolg gehabt hatte, dann hatte Vater Sandoval die Situation gerettet, indem er ihnen kraft der ihm von der Kirche verliehenen Autorität Buße auferlegte. Und nun sagte Rigo ihr die Zukunft voraus.
»Jemand wird ein Gegenmittel finden. Wo wir nun wissen, daß die Antwort hier zu finden ist, wird jemand ein Gegenmittel finden, und zwar schon bald. Wir müssen nur noch solange hierbleiben, bis das Gegenmittel ausgegeben wird. Und dann geht das richtige Leben für uns weiter. Für uns vier.«
»Wir müssen was?« fragte sie, wobei sie an die Ungeheuer in der Stadt und im Hafen dachte. Er schien sie einfach zu ignorieren. Aber zuvor hatte er ihre Existenz doch auch zur Kenntnis genommen. Das war schon sonderbar. »Was müssen wir tun?«
»Wir vier«, wiederholte er. »Einschließlich Stella.« Er schaute böse. Offensichtlich wurde das durch die Vorstellung verursacht, daß Stella sich nun im Wald aufhielt. »Sie wird viel Zuwendung brauchen, aber deswegen brauchst du nicht deine Wohltätigkeitsarbeit aufzugeben. Wir könnten Betreuer für sie einstellen.«
»Betreuer.«
Er preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Ich weiß, daß sie viel Zuwendung brauchen wird, Marjorie. Was ich damit sagen will, ist, daß es keine zusätzliche Belastung für dich darstellen muß. Ich weiß ja, was deine Arbeit dir bedeutet und wie wichtig sie dir ist. Vater Sandoval hat gesagt, ich hätte mich mit dir nicht so oft deswegen streiten sollen. Das war falsch von mir. Du hast ein Recht darauf, eigenen Interessen nachzugehen…«
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Was erzählte er denn da? Glaubte er ernsthaft, sie könnten dort anknüpfen, wo sie aufgehört hatten, als ob überhaupt nichts gewesen wäre? Er würde sich einen Ersatz für Eugenie suchen und dann weitermachen wie gehabt? Sie würde wieder nach Breedertown gehen und sich um die Versorgung der Leute kümmern? Wie gehabt?
»Haben du und Vater Sandoval auch erörtert, wie du Stella deinen Freunden vorstellen willst?« fragte sie. »Wirst du ihnen vielleicht sagen: ›Das ist Stella, meine behinderte Tochter. Ich habe zugelassen, daß sie auf Gras sexuell und mental mißbraucht wurde, weil ich Leuten meine Männlichkeit beweisen wollte, die ich überhaupt nicht mochte.‹ Etwas in der Art?«
Zornesröte überzog sein Gesicht. »Du hast kein Recht…«
Sie hob die Hand. »Ich habe jedes Recht, Rigo. Ich bin ihre Mutter. Du hast nicht allein über sie zu bestimmen. Sie ist auch mein Kind. Außerdem ist sie eine eigenständige Persönlichkeit. Du kannst ja versuchen, Stella nach Terra zurückzubringen. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, daß du sie so ohne weiteres von dort wegbringst, wo sie jetzt gerade ist. Es würde dir schon schwer genug fallen, mich von hier wegzuschaffen. Wenn du auf die alte Art weitermachen willst, kann ich dich nicht daran hindern. Aber du darfst nicht erwarten, daß Stella und ich brav hinter dir herdackeln!«
»Du willst doch nicht etwa hierbleiben! Was willst du hier überhaupt machen? Du hast zu Hause deine Arbeit. Unser Zuhause ist auf Terra.«
»Früher hätte ich dir recht gegeben. Jetzt nicht mehr.«
»Und was ist mit den Begründungen, die du mir für deine Arbeit in Breedertown genannt hast? Willst du sagen, das sei alles nur heiße Luft gewesen? Lügen?«
»Damals habe ich es für wichtig gehalten.« Oder ich habe es mir bloß eingeredet, sagte sie sich.
»Und jetzt nicht mehr?«
»Es ist doch völlig egal, was ich glaube. Ich weiß nicht einmal, was ich glaube. Auch wenn du meinst, daß die Pest besiegt wird, sterben wir vielleicht trotzdem noch daran! Oder wir werden von den Hippae getötet. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, falls und wenn zu diskutieren! Im Moment geht es für uns nur ums Überleben.« Sie stand ruckartig auf. Im Vorübergehen legte sie ihm die Hand auf die Schulter, wobei sie nicht wußte, ob sie nun ihn oder sich selbst trösten wollte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für einen Streit mit ihm gewesen. Wenn sie hier schon ihr Leben beschließen sollten, hätte sie sich gewünscht, daß das nicht im Zorn geschah. Aber nun war es nicht mehr ungeschehen zu machen.
Er folgte ihr; sie stand mit dem Soldaten am Fenster. Rigo schaute ihnen über die Schulter und überflog das brennende und zerstörte
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