Monströse Welten 2: Hobbs Land
dunkle Konturen aus dem wabernden Nebel. Eine steife Brise vertrieb die Nebelschwaden und klärte den Blick auf die Stadt. Eine Ansammlung grauer Gebäude, die sich an der Küste entlangzogen und von der auf einem Felsmassiv errichteten Zitadelle überragt wurden.
4
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Am Tor der Zitadelle angekommen, wurden Sam und Samstag von zwei Männern in Empfang genommen. Sie trugen Kutten und einen üppigen Kopfputz, der nur die Ohren und die maskenhaften Gesichter freiließ. Überhaupt wirkten die Gestalten nicht wie autonome Individuen, sondern wie ferngesteuerte Roboter. Die massigen Konturen erinnerten Samstag an die Figuren, die sie auf dem Friedhof in Selmouth gesehen hatte. Sie ertappte sich dabei, wie sie die Männer anstarrte und schlug sofort die Augen nieder. Allerdings hatten die beiden es schon bemerkt.
»Es schickt sich nicht für eine Frau, einem Mann ins Gesicht zu blicken«, sagte der eine mit einem Knurren und schaute verkniffen drein. »Eine unzüchtige Frau ist ein Werkzeug des Teufels.«
»Hat die Frau denn keinen Schleier?« fragte der andere, eine molluskenartige Gestalt mit rosigen, vollen Lippen.
»Sie ist noch so jung, daß sie keinen Schleier braucht«, erwiderte Sam. »Aber sie wird sich ein Taschentuch umbinden. Was soll überhaupt verhüllt werden?«
»Das Gesicht. Nur die Augen dürfen freibleiben.«
Samstag wollte schon Widerspruch einlegen, besann sich dann aber eines anderen. In dieser Hinsicht war sie von Maire nur unzureichend aufgeklärt worden. Sie hatte zwar von allem möglichen erzählt, aber nur sehr wenig von den Propheten und der Sache. Wo Sam bei ihr war, war es besser, sich einfach dreinzufügen, zu schweigen und Sam die Dinge regeln zu lassen, quasi von Mann zu Mann. Also ließ sie es geschehen, daß er ihr mit dem Taschentuch das Gesicht verhüllte. Den Schal, den sie bei sich hatte, drapierte sie um den Kopf. Zum Glück trug sie sackartige Klamotten, die ihre weiblichen Konturen kaschierten. Dann wurde Sam in die Zitadelle geführt, und sie hielt sich so dicht wie möglich bei ihm. Sie versuchte, alle Gedanken zu verdrängen.
Sie wurden zu einem Podest mit hochlehnigen Stühlen geführt; auf dem mittleren Stuhl, dem mit der höchsten Lehne, saß ein in eine Robe gehüllter Prophet; er war ein alter Mann mit tief in den Höhlen liegenden Augen und runzligem Gesicht. Der Stuhl war im Grunde viel zu groß für den Propheten, aber sein Zorn ließ ihn regelrecht anschwellen. Der Stuhl pulsierte wie eine Supernova. Samstag nahm den Anblick nur schemenhaft wahr. Sie senkte den Blick, um nicht in diese zornigen Augen zu schauen; sie spürte, daß ein solcher Versuch gefährlich gewesen wäre. Um sie zu beruhigen, legte Sam ihr die Hand auf die Schulter. Dabei spürte sie, daß er selbst auch zitterte.
»Weshalb bringst du diese Hure des Satans nach Voorstod?« kreischte der Prophet mit brüchiger und dennoch haßerfüllter Stimme.
Sam antwortete nicht sofort. Die Worte des Propheten waren ihm ein Rätsel. Und gleichzeitig war dieses Rätsel der Schlüssel zur Lösung. Wo war die Antwort zu suchen, in einer Legende? Natürlich war Samstag keine Hure. Huren kamen in Legenden nicht vor. Aber welche Rolle spielte sie dann? Eine Prinzessin? Eine Priesterin? Eine Jungfrau, die einem Drachen geopfert werden sollte? Die Ähnlichkeit des alten Mannes mit einem Drachen war unverkennbar.
»Sie ist eine Verwandte, ein jungfräuliches Mädchen, das einem jungen Mann versprochen ist, den ihr als Geisel genommen habt. Unsere Sitten und Gebräuche verlangen, daß sie ihn in die Gefangenschaft begleitet und ihm in der Gefahr beisteht.«
»Jungfrau, daß ich nicht lache«, zischte der Prophet. »Meine Söhne sagen, sie sei so verrucht, daß sie nicht einmal das Gesicht verhüllt vor den Propheten des Allmächtigen.«
»Das ist wahr«, sagte Sam und schaltete von Mystik auf Pragmatik um. »Bei uns auf Hobbs Land gibt es keine Propheten. Wir sind mit euren Gebräuchen nicht vertraut.«
»Diesem Mangel wird bald abgeholfen werden«, versprach der Prophet. »Weshalb bist du hergekommen?«
»Es wäre unschicklich, wenn sie allein reisen würde. Sie ist meinem Sohn versprochen, und ich bin verpflichtet, seine Ehre zu verteidigen.« Nun wechselte er wieder auf die Ebene der Legenden und schlug im ›Wörterbuch des Mittelalters‹ nach. Auf Hobbs Land hätte er damit
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