Monströse Welten 2: Hobbs Land
ihr aus Trauer oder Leid gerufen?‹«
»Mams Lied? Ach, du meinst das, von dem sie immer erzählt. Das letzte Lied – wie hieß es gleich noch?«
»›Das letzte Geflügelte Wesen‹, Sam. Hör zu.«
»Als ihr um Frieden batet, wer kam und starb?
Als ihr um Freude batet, wer ertrank im Meer?
Als ihr um Liebe batet, wer blieb und versuchte
euch zu helfen, obwohl Voorstod kein Ort der Liebe ist?«
Uniformierte näherten sich. Die Frau sah sie wohl, ließ sich aber nicht stören. Ganz im Gegenteil, der Gesang wurde noch leidenschaftlicher.
»Wo es nun keine Hoffnung mehr gibt,
ist es Zeit für uns zu gehen.
Küß mich, Kind. Leb wohl, mein Kind.
Folge mir, Kind; wir gehen.«
Dann wurde sie von den Männern umringt. Auch als die vermummte Frau abgeführt wurde, sang sie weiter. »Wir werden gehen. Wir werden gehen. Wir werden gehen.«
»Ich wußte gar nicht, daß Mams Lieder noch aktuell sind«, sagte Sam. »Wo sie doch schon so lange fortgegangen ist.«
Samstag schaute ihn mißbilligend an. Über das Schicksal der Frau verlor er kein Wort! »Weshalb führen sie die Frau ab?« rief sie. »Ist dieses Lied etwa verboten? Maire durfte es jedenfalls singen.«
Sam schüttelte den Kopf. Er wußte es nicht. Er hatte überhaupt nicht zugehört. Er hatte auch nicht mitbekommen, was danach geschehen war. Er war mit den Gedanken woanders gewesen.
Samstag drang nicht weiter in ihn, sondern fragte sich, woran er wohl dachte.
Sie kehrten zur Taverne zurück und gingen auf ihr schmuddeliges Zimmer. Samstag nahm die Bettdecke und schüttelte sie auf dem Flur aus. Dann legten sie sich auf das Bett und waren sofort eingeschlafen. Am nächsten Morgen wurden sie vom Wirt unsanft geweckt.
»Ihr müßt gehen«, zischte er. »Ihr werdet in Wolke erwartet.«
Sie schauten aus dem Fenster. Unten wartete bereits der Fahrer; ein junger Mann, der eine Kappe mit einem breiten Schirm trug. In Anbetracht dessen, was Maire ihnen über solche Kappen erzählt hatte, mußte es sich um einen Gläubigen handeln.
Sam band Samstag ein Kopftuch um. Dann schwärzte er ihr das Gesicht mit Ruß. »Wir sagen ihnen nur, daß wir in der Konzerthalle waren und den Zwischenfall mitbekommen haben«, flüsterte Sam. »Das hat aber nichts mit unserem Aufenthalt hier zu tun.«
Samstag nickte. Als sie die Taverne verließ, griff der Mann sich in den Schritt, als ob er ein Instrument spielen wollte. Maire und Africa hatten sie vor dem Risiko einer eventuellen Vergewaltigung gewarnt. Als Samstag jedoch den Mund aufriß und ihm die fleckigen Zähne zeigte, schwand sein Interesse. Beim Fahrzeug handelte es sich um einen Viehtransporter. Ein übler Brodem stieg ihnen in die Nase.
»Ihr habt die Wahl«, sagte der Fahrer spöttisch. »Hinten bei den Viechern oder vorne bei mir.«
»Wir fahren bei dir mit«, sagte Sam und schwang sich auf den mittleren Sitz. Samstag nahm an der Tür Platz. »Sie braucht frische Luft; du weißt ja, wie empfindlich die Mädchen sind.«
»Was will sie überhaupt hier?« fragte der Fahrer zornig. »Wir haben sie nicht angefordert. Dich auch nicht!«
»Ich bin nur ihr Begleiter«, erklärte Sam. »Sie will zu dem Jungen, und dann sollen sie und der Junge zu der Frau zurück. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Die Frau ist deine Mutter, stimmt’s?«
»Vielleicht läuft das bei euch anders«, parierte Sam. »Ich habe jedenfalls keine Ahnung, ob sie meine Mutter ist.«
Der Chauffeur schnaubte bloß. Auf der Straße herrschte dichter Verkehr. Entlang der Route befanden sich viele Städte und Dörfer. Dahinter erstreckten sich Felder und Weideland bis hin zu den Bergen. Die Küste wurde von Fischerdörfern gesäumt; an den Anlegestellen waren Boote und Schiffe vertäut.
»Keine Buchten«, sagte Sam. »Ich wette, bei schlechtem Wetter verliert ihr viele Schiffe.«
»Wenn ein Sturm aufzieht, werden die Boote nach Wolke verlegt. Oder nach Selmouth und Scaery. Dorthin könnten sie auch gleich fahren, denn hier nützen sie uns eh nichts.«
»Gibt’s Probleme?« fragte Sam scheinheilig.
»Die Marine der Königin patrouilliert vor der Küste und läßt keines unserer Schiffe durch. Noch ein paar Tage, und die Vorräte werden knapp.«
Von nun an verlief die Fahrt schweigend. Am Vormittag war der Nebel schon so dicht, daß sie gerade noch die Motorhaube des Fahrzeugs sahen. Am Nachmittag wies der Fahrer in Fahrtrichtung und sagte: »Dort vorne liegt Wolkenhafen.«
Zuerst sahen sie überhaupt nichts. Dann schälten sich
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