Monströse Welten 2: Hobbs Land
wieder der Sonne und dem Wind aussetzen dürfen, wie sie es als Kind zum letztenmal getan hatte.
Bevor sie den Schleier tragen mußte, hatte sie Lieder über Voorstod geschrieben, Lieder über Wiesen, Wälder und felsige Küsten, Liebeserklärungen an die einfachen Dinge des Lebens, Lieder von Adlern, die über den Klippen kreisten und von Krähen im Kornfeld. Bei den geflügelten Lebewesen von Voorstod handelte es sich zwar nicht um Adler und Krähen im eigentlichen Sinn, und auch das Getreide war im Grunde kein Getreide, aber die alten Bezeichnungen paßten ganz gut, zumal die Propheten angeordnet hatten, keine neuen Wortschöpfungen zu prägen, wenn die alten Namen den Sachverhalt auch hinreichend beschrieben.
Mit vierzehn gab sie ihr erstes kommerzielles Konzert, eine musikalische Kulisse für eine Informationsveranstaltung, an der auch andere weibliche Interpreten mitwirkten. Maires Präsenz auf solchen Veranstaltungen trug ihr den Namen ›Stimme von Voorstod‹ ein. Das Honorar für die Aufnahme ging an ihren Vater, der ihr indes einen kleinen Betrag überließ, um sie zu ›motivieren‹, wie er sich ausdrückte. Er war ein ausgesprochen geldgieriger Mensch. Da kamen die Honorare seiner Tochter ihm gerade recht, um seine Saufbrüder in der Taverne freizuhalten, weitere Gharm zu erwerben und seinen Kopfputz zu verschönern. Dieser von phansurischen Juwelieren gefertigte Schmuck, insbesondere die gehobene Qualität, war nämlich sehr kostspielig.
Das war das erste Geld, das Maire je in Händen gehalten hatte. Sie erinnerte sich, wie sie es auf die Handfläche gelegt und betrachtet hatte, als ob es sich gleich in etwas anderes verwandeln würde. Es sah so unscheinbar aus, dieses Geld. Ein paar Münzen und drei Scheine. Und doch konnte sie sich davon ein Kleid oder ein Paar Schuhe kaufen oder eine Karte für die überfüllte Frauenloge in der Konzerthalle.
Maire kaufte sich indes überhaupt nichts, sondern gab das Geld Lilla. Lilla war mittlerweile auch älter geworden, aber ihr Gesicht war noch immer ohne Falten, und der Pelz auf dem Kopf und am Hals war noch immer schwarz.
»Das ist für eure Flucht«, flüsterte Maire. »Für dich, für Bel und Bitty.«
Lilla sah sie mit einem unergründlichen Blick an. »Flucht?«
»Nach Ahabar. Schau mich nicht so an, Lilla. Ich weiß, daß Gharm nach Ahabar fliehen. Frauen verschwinden auch nach Ahabar. Ich belausche sie immer bei ihren Gesprächen.«
»Ein Fluchtversuch könnte uns das Leben kosten.«
»Wenn ihr hierbleibt, könnte es euch auch das Leben kosten«, sagte Maire weinend. »Fess ist schon tot.«
»Meine Tochter«, sagte Lilla würdevoll. »Meine Tochter Fess Salion, von der Grünen Schlange Chenka.«
Maire verstand zwar nicht die Bedeutung des Wortes Chenka, aber sie spürte, daß es eine besondere Bewandtnis damit hatte. »Ihr habt ja doch Nachnamen.«
»Selbstverständlich haben wir Nachnamen. Glaubst du denn, wir hätten keine Geschichte, Voorstoderin?«
»Die Männer sagen…«
»Die Männer sind allesamt Lügner«, zischte Lilla und widmete sich wieder dem Besen. »Sie saugen die Lügen wie Rauch in ihre Lungen und speien sie wieder aus!«
Sie kamen nicht mehr auf dieses Thema zu sprechen, aber Maire sparte das ganze Geld, das ihr Vater ihr zukommen ließ. Als sie schließlich glaubte, es sei genug, legte sie es in einen Krug und stellte ihn auf die Treppe der Gharm-Unterkunft. Lilla sagte nichts, aber eines Morgens stand der Krug nicht mehr da. Noch in diesem Jahr waren alle Gharm des Manone-Anwesens verschwunden.
Dad bekam einen Tobsuchtsanfall. Mam weinte. Maire sagte überhaupt nichts und schüttelte nur in vorgetäuschtem Kummer den Kopf.
»Illoyaler Abschaum«, brüllte Dad. »Verräterische Tiere.«
»Weise«, flüsterte Maire unhörbar, um sich die Richtigkeit ihrer Handlung noch einmal zu bestätigen. »Mutig.«
Im Spätsommer kaufte ihr Vater neue Gharm, zwei Männer und eine Frau mit Kindern. Maire sprach kein Wort mit ihnen und erteilte ihnen auch keine einzige Anordnung. Wenn die Gharm keine Befehle erhielten, konnten sie sie auch nicht falsch ausführen oder gar mißachten. Das war für Maire die einzige Möglichkeit, Widerstand zu leisten.
Wenn sie mit anderen Frauen sprach, legte sie jedes einzelne Wort auf die Goldwaage. Frauen, die sich an Auspeitschungen beteiligten, sprach sie erst gar nicht an. Aber es gab auch noch solche, die Mitleid mit den Gharm hatten und ihnen halfen. Gharm erschienen mitten in der Nacht und
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