Monströse Welten 2: Hobbs Land
Brauen. Das Gesicht war sauber, und die Kleidung war gut, wenn auch nicht modisch. ›Modisch‹ war eine Bezeichnung, die ältere Frauen auf anderen Planeten im Zusammenhang mit Kleidung verwendeten, in einer phansurischen Stadt, in einem anderen Leben. Nicht einmal in der Zentralverwaltung war man modisch gekleidet; allerdings war China in diesem Zusammenhang mehrmals die Bezeichnung ›sexy‹ zu Ohren gekommen. Was wohl soviel wie ›nackt‹ bedeutete, mutmaßte China. Haut zeigen. Vielleicht Brüste oder Beine. Manchmal übte China sich vor dem Schlafzimmerspiegel in solchen Posen und hüllte sich dabei in diverse luftige Fummel. Sie mußte eine exhibitionistische Ader haben. Sam wäre schier verrückt geworden. Wenn sie sich so in der Öffentlichkeit präsentiert hätte, wäre sie vom Siedlungsrat geächtet worden! Geschlechtsverkehr durfte man haben. Sexy auftreten aber nicht. Obwohl einige Leute durchaus sexy waren. Sam zum Beispiel. Er war überaus sexy.
Samasnier, Samasnier Vorcel Girat, rezitierte sie im Geiste. Samasnier war hyper, das war sein Problem. Er war einfach zu gut drauf. Vielleicht mußte ein Topman hyper sein, aber Sam übertrieb es. China wäre zu einer dauerhaften Beziehung mit ihm bereit gewesen, wenn er nicht so aggressiv und wunderlich gewesen wäre. Was wollte er überhaupt? Er wollte die Geheimnisse des Lebens ergründen? Er suchte Antworten? Worauf? Er wußte die Antworten nicht; und sie konnte sie ihm auch nicht geben. Und nun lief er nachts in der Gegend herum, mit einem komischen Gürtel, den er selbst angefertigt hatte, und benahm sich wie ein Idiot. Er glaubte, niemand wüßte es, aber jeder in der Siedlung wußte es. Merkwürdiger, wilder Sam. Und wenn der Viehtreiber die Wahrheit gesagt hatte, dann war er vielleicht nicht nur wunderlich, sondern nachgerade verrückt.
Das Problem war nur, daß niemand einen verrückten Sam wollte. Dafür machte er seine Arbeit zu gut. Wie er zum Beispiel den Zwischenfall mit Hever gemeistert hatte. Jeder andere hätte Hever die Beine zerschmettert, aber nicht Sam! Wenn irgend jemand aus der Siedlung der Zentralverwaltung meldete, daß Sam verrückt geworden war, würden sie ihn wegbringen, und das wollte niemand. Die Leute wollten nicht einmal, daß sie ihn heilten und zurückschickten, denn das hätte vielleicht eine Veränderung in ihm bewirkt. Wenn ein Patient die Psychiatrie verließ, war er nicht mehr derselbe wie vorher. Manchmal verfielen sie einfach in Apathie. Dann war es schon besser, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn er sich draußen in den Hügeln austobte.
Sie verdrängte die Gedanken an Sam und lief den Pfad entlang zum Tempel, wobei sie den Theckles zuwinkte, die auf der Veranda ihres Singlehauses saßen. Mit fünfzig Jahren war Mard Theckles der älteste der Siedler gewesen, welche die Siedlung Eins gegründet hatten, wobei er zuvor schon Berufserfahrung bei einem anderen Hobbs-Farm-Projekt gesammelt hatte. Vor einigen Jahren war sein Bruder Emun auch nach Hobbs Land gezogen, nachdem seine Dienstzeit bei der Armee abgelaufen war. Emun hatte fünfzig Jahre lang in der Cyber-INST auf Enforcement gearbeitet. Beim Gedanken an diese Zombie-Armee, die auf Abruf in dem Mond lagerte, kam China das kalte Grausen. Also winkte sie den Brüdern (die aus der Nordprovinz von Phansuri stammten und größer und weniger temperamentvoll waren als die anderen Phansuri) zu und verdrängte den Gedanken daran, womit Emun sich fast sein ganzes Leben lang beschäftigt hatte.
Nach dem Haus der Theckles kamen nur noch zwei weitere Anwesen, die der Tillans und Quillows, dann die kleine Lagerhalle, ein pilzförmiges Betonhaus und zwei fragile Bambushütten, deren Wände das Sonnenlicht reflektierten. Schließlich erreichte sie den Tempel. Überrascht stellte sie fest, daß der Verfall des Gebäudes bereits eingesetzt hatte. Anscheinend räumte das Büro für Umwelt- und Naturschutz anderen Projekten Priorität ein.
Sie ging durch die schmale Tür und stand nun an der Kante der inneren ›Arena‹. Das Kuppeldach bestand aus quer über die Bögen gelegten Wolfszedern-Balken. Wie Jeb an die Probe gekommen war und wie sie eine zweite nehmen sollte, war ihr indes schleierhaft. Die Balken befanden sich allesamt außer Reichweite.
Sie ging hinunter in die mit einem Mosaik ausgekleidete Mulde und bückte sich, um das Muster in Augenschein zu nehmen. Erst jetzt bemerkte sie die Fasern zwischen den Mosaiksteinchen, die aus dem Lehmboden wuchsen und die einzelnen
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