Monströse Welten 3: Toleranz
und Ängste miteinander teilten, neigten sie doch dazu, ihre Träume und Sehnsüchte für sich zu behalten. Bertran träumte davon, Wasserski zu fahren und über Wellen mit Gischtkronen zu surfen. Nela war in ihrer Phantasie eine Ballettänzerin, allerdings keine einfache Ballettänzerin, sondern eine Primaballerina, die schwerelos durch Wogen von Applaus sprang. Sie hatten Angst, diese Visionen miteinander zu teilen und hatten schon gar keine Möglichkeit, sie anderen Leuten mitzuteilen. Sie hatten gelernt, auf die Gefühle des jeweils anderen Rücksicht zu nehmen, denn wenn einer unglücklich war, war zwangsläufig auch der andere davon betroffen. Sie teilten sich das Leid wie den durch den Kreislauf strömenden Sauerstoff. Dennoch hielt sie das nicht davon ab, sich zu kabbeln, wobei die Personen, die ihnen am nächsten standen, indes erkannten, daß sie damit nur Dampf abließen und sich nicht wirklich stritten.
Dann kamen sie in die Pubertät, und damit kamen auch die Probleme, die ihr Kinderarzt befürchtet hatte. Im Alter von vierzehn Jahren pumpten diverse unbestimmte Organe Hormone in die Körper, und nun stieß auch ein Endokrinologe zur Arbeitsgruppe aus Ärzten, die von Zeit zu Zeit zusammenkamen, um das Wesen der Zwillinge zu erörtern.
»Wenn wir ihr Östrogene geben, wird er sie zwangsläufig auch abbekommen«, sagte der Hormonexperte schnaubend. »Und wenn wir ihm Testosteron verabreichen, wird ihr auch ein Bart wachsen.«
»Was produzieren sie denn auf natürlichem Weg?« fragte einer der Chirurgen.
»Ein höllisches Gemisch«, sagte der Endokrinologe düster. »Wie ein Ragout.«
»Sie entwickeln beide Schamhaar und Brüste.«
»Also weibliche Hormone.«
»Nun ja. Nur daß ihnen auch auf der Brust und im Gesicht Haare wachsen.«
»Vergessen Sie nicht die Libido«, sagte der Kinderarzt. »Ihre Mutter sagt, daß sie definitiv ein Sexualleben entwickeln.« Das hatte Maria allerdings nicht gemeint, als sie den Umstand erwähnt hatte.
»Miteinander?« fragte der Genetiker erschrocken.
»Mit wem denn sonst?« sagte jemand kichernd.
Die Zwillinge hatten wohl seit einiger Zeit eine sinnliche Beziehung zueinander entwickelt. Obwohl ihre sorgfältig modellierten Geschlechtsorgane nicht funktionsfähig waren, verfügten sie doch über Nervenenden. Bertran und Nela hatten, in Ermangelung anderer Freuden, gewisse gegenseitige Vergnügungen entdeckt, als sie ungefähr sechs waren. Verbote solcher Aktivitäten, mit denen sie im Religionsunterricht konfrontiert wurden, wobei alles als Sünde verworfen wurde, was nicht der Fortpflanzung diente, konnten in ihrem Fall einfach nicht verhängt werden. Das hatte Hertran Nela versichert, als sie ungefähr zwölf waren. Nela erwiderte, sie sei sicher, daß Vater oder die Nonnen doch einen Grund finden würden, weil sie fast alles, was Spaß machte, als Sünde bezeichneten.
»Obwohl wir nie ein Kind machen können«, sagte sie. »Der Doktor hat das gesagt.«
»Wir könnten aber so tun«, schlug Bertran zögernd vor. Er hatte Bedauern in ihrer Stimme gehört, wußte aber nicht, ob sie sich grämte, weil sie keine Babies bekommen konnte.
»Das könnten wir sicher«, sagte sie zweifelnd. Sie fragte sich, weshalb Bertran so etwas überhaupt vorschlug, doch vielleicht war er nur traurig, weil er niemals Vater werden würde. »Wie sollen wir das Kind nennen?«
»Turtle«, sagte Bertran spontan. »Wir nennen ihn Turtle. Turtle Korsyzczy.«
»Nicht Korsyzczy«, wandte sie ein. »Er wird den Namen später sicher ändern, weil ›Korsyzczy‹ ein solcher Zungenbrecher ist. Er wird sich einen Namen wünschen, der ausdrückt, wer er ist und nicht, mit wem er verwandt ist.«
»Nun, wer ist er also?«
»Er ist unsere Schildkröte, Berty. Grauer-Wind-Fliegende-Schild- kröte. Tun wir so, als ob er fliegen könnte. Nennen wir ihn Schildkröten-Vogel.«
Bertran dachte darüber nach. »›Vogel‹ gefällt mir nicht«, sagte er. »Vielleicht etwas anderes mit Flügeln.«
»Schmetterling? Engel? Motte?« schlug Nela vor. »Adler? Eule? Ente?«
»Taube«, sagte er spontan. »Schildkröten-Taube. Wie die Stimme der Taube in der Bibel, du weißt schon.«
Also nannten sie ihr Kind Schildkrötentaube. Wie selbstverständlich setzten sie voraus, daß es ein Junge war. Nela hatte keine Einwände. Weil ihr Kind ein ›Er‹ war, war er ein Junge, obwohl alles, was er tat, genauso gut auch von einer Sie oder einem Es hätte getan werden können. Die Kinder dachten sich
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