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Monströse Welten 3: Toleranz

Monströse Welten 3: Toleranz

Titel: Monströse Welten 3: Toleranz
Autoren: Sheri S. Tepper
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und Nela Korsyzczy sich sowohl durch Notwendigkeit als auch durch Neigung zu Leseratten, wobei ihre Vorliebe für Geschichten dadurch stimuliert wurde, daß Maria ihnen immer Gute-Nacht-Geschichten vorlas. Die eine Stunde, die sie am Bett der Zwillinge saß und ihnen im schummrigen Schein der Lampe aus ihren Lieblingsbüchern vorlas, war Marias schönste Zeit des Tages.
    Eines Abends, als sie aus Alice im Wunderland vorlas, einer Neuauflage mit vielen bunten Bildern, unterbrach Bertran die Lesung: »Mußt du denn immer Mädchengeschichten vorlesen?«
    »Das ist überhaupt keine Mädchengeschichte«, sagte Maria überrascht. »Das ist ein Klassiker. Alice könnte genauso gut ein kleiner Junge sein.«
    »Niemals! Sie heult doch die ganze Zeit, redet mit sich selbst und macht dumme Sachen.«
    »Sie muß auch mit sich selbst reden«, wandte Nela ein. »Sie hat doch niemanden, mit dem sie sich unterhalten könnte.«
    »Ein Junge würde nicht mit sich selbst reden«, beharrte Bertran auf seinem Standpunkt. »Er würde etwas tun!«
    »Pah«, sagte Nela. »Was würdest du denn tun?«
    »Ich würde zum Beispiel diese Raupe kaputtmachen.«
    »Jungs müssen immer etwas kaputtmachen«, spöttelte Nela.
    Bertran schwieg grummelnd.
    »Morgen abend werde ich dir etwas vorlesen«, versprach seine Mutter. »Du darfst dir etwas aussuchen.«
    »Lies mir die Schildkrötengeschichte vor«, sagte er. »Nicht die Ninja-Turtles, sondern die anderen!«
    Maria fragte sich zwar, wieso die Schildkrötengeschichte eher etwas für Jungs sein sollte als für Mädchen, doch weil Nela keine Einwände hatte, suchte sie das zerfledderte, alte Buch. Es lag hinter den Märchenkassetten im untersten Regal. Es hatte Eselsohren und war mit Marmelade oder etwas noch Schlimmeren verschmiert. Es hieß Die Schildkröte, die fliegen wollte.
    »›Es war einmal eine Schildkröte‹«, las sie und erzählte von der Schildkröte, die im Teich schwamm und sich im Schlamm aalte, die Grünzeug und Würmer fraß und dem Plätschern des Wassers und dem Summen der Libellen lauschte, die sah, wie die Schwalben im Tiefflug über die silberne Wasseroberfläche jagten.
    »›Es nahte der Herbst, eine Jahreszeit mit grauen Dornen, grauen Blättern und grauem Nebel‹«, las sie. »›Die Schildkröte sah die schimmernden Schwalben im Abendnebel und fragte sich, was das wohl war, denn sie erkannte sie nicht, die pfeilschnellen Vögel mit den silbernen Bäuchen und den saphirblauen Rücken, die kühne Kurven flogen und über den Wellen tanzten. ,Ich will sie sehen’, sagte die Schildkröte weinend. ,Ich will sie aus der Nähe sehen und ihr Gefieder fühlen und das Wispern der Schwingen hören, denn wenn ich sie aus der Nähe sehe, werde ich sicher auch fliegen können…’
    ,Um sie aus der Nähe zu sehen, mußt du zum geheimen Versteck der Vögel gehen’, sagte der Ochsenfrosch, dessen Augen so beschaffen waren, daß er nur die Bewegung der Vögel sah, nicht aber die Vögel selbst. ,Mein Großvater hat mir von dem Ort hoch oben in den windumtosten Bergen erzählt.’
    Also ging die Schildkröte auf die Wanderung. Der lange und beschwerliche Weg führte vorbei an grauen Bäumen und grauen Felsen, die vom grauen Wind umtost wurden, bis sie schließlich den geheimen Zufluchtsort der Vögel erreichte.
    Und dort sah sie die Vögel, wie sie es sich gewünscht hatte. Und dort machte man der Schildkröte ein Angebot, das sie nicht annehmen konnte.‹«
    »Die Geschichte gefällt mir nicht«, sagte Nela quengelig und mit zornigem Blick.
    »Mir aber«, sagte Bertran und wischte sich mit dem Unterarm die Tränen aus dem Gesicht. »Diese Geschichte ist echt. Wie im richtigen Leben.«
    »Es ist nur ein Märchen«, sagte seine Mutter, die über die Intensität seiner Gefühle erschrocken war. »Berty, es ist nur eine Geschichte!«
    »Wirklichkeit«, widersprach er. »Sie zeigt, wie die Schildkröte sich fühlt.«
    »Weißt du«, sagte Maria leicht irritiert und besorgt, »wenn du fleißig übst, kannst du bald selbst lesen. Dann kannst du lesen, was du magst.«
    Sie wischte Nela die Tränen aus dem Gesicht, und plötzlich überkam sie Sehnsucht nach dem Menschen, der ihr früher die Tränen abgewischt hatte, ihre ältere Schwester Sizzy. Es war Sizzy gewesen, die Maria Geschichten vorgelesen hatte, als sie ein Kind war, immer Sizzy, die sie tröstete, wenn ein Mißgeschick passiert war. Sizzy war schon lange von zu Hause ausgezogen. Sizzy mußte nun in den Vierzigern sein. Maria hatte
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