Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
wirkliches Glück. Ich glaube sogar, dass sie die ganze Zeit über traurig war …«
Becca riss den Mund weit auf, wenn Alexandre von seiner Mutter erzählte. Sie schüttelte den Kopf, schlug ihre violett-gelben Handschuhe zusammen und rief, wenn das mal kein Unglück ist! Dann hob sie die Hände zum Himmel und sagte, wenn ich einen Jungen wie dich gehabt hätte! Wenn ich doch nur einen Jungen wie dich gehabt hätte! Sie schloss die Augen, und wenn sie sie wieder öffnete, waren sie feucht. Alexandre dachte bei sich, dass ihre Augen sicher deshalb so ausgewaschen waren, weil sie viel geweint hatte.
Er musste Beccas Augen immer wieder anschauen. Sie waren so blau, dass er das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn er in sie eintauchte; alles um ihn herum verschwamm. Becca hatte nichts von einer alten Schachtel. Sie war klein, zierlich, hielt ihren von flammend weißem Haar umgebenen Kopf sehr gerade, drehte ihn ein wenig zur Seite wie ein pickender Vogel, und wenn sie die Lumpen ablegte, in die sie sich einwickelte, enthüllte sie die Taille eines jungen Mädchens mit Korsett. Er fragte sich manchmal, ob sie schon lange arm war, denn für eine Frau ihres Alters war sie noch sehr gut in Form. Er hätte gern gewusst, wie sie in einen Rollstuhl im Park geraten war.
Er wagte nicht, sie danach zu fragen. Er spürte, dass dies ein gefährliches Terrain war, und man muss ziemlich hart im Nehmen sein, um das Unglück anderer Leute anzuhören. Also sagte er nur: »Das Leben ist nicht gerade sanft mit dir umgesprungen …«
»Das Leben tut, was es kann. Es kann nicht alle verwöhnen. Und außerdem ist das Glück nicht immer da, wo man es erwartet. Manchmal ist es da, wo niemand es sieht. Und was ist das überhaupt für eine Vorstellung, dass man die ganze Zeit glücklich sein soll?«
Sie geriet in Rage, rutschte in ihrem Rollstuhl hin und her, dass ihre zahlreichen Wollschichten herabglitten, und zog sie achtlos wieder hoch.
»Ist doch wahr! Man ist nicht verpflichtet, ständig glücklich zu sein oder auf die gleiche Weise wie alle anderen … Jeder erfindet sein Glück selbst, so, wie es zu einem passt, da gibt es keine allgemeingültige Regel. Glaubst du etwa, ein schönes Haus, ein großes Auto, zehn Handys, ein riesiger Flachbildfernseher und ein schönes, warmes Dach über dem Kopf, das macht die Leute glücklich? Ich habe beschlossen, auf meine Weise glücklich zu sein …«
»Und? Gelingt es dir?«
»Nicht jeden Tag, aber es geht. Und wenn ich wirklich jeden Tag glücklich wäre, dann wüsste ich doch gar nicht mehr, dass ich glücklich bin! Verstehst du das, luv ? Verstehst du das?«
Er sagte Ja, um sie nicht zu verärgern, aber eigentlich verstand er das nicht so recht.
Danach beruhigte sie sich wieder. Sie wand sich in ihrem Stuhl, um das Ende ihres Schals zu erwischen und ihren Poncho und den verrutschten Haken unter ihrem Kinn zurechtzuziehen, rieb sich das Gesicht, als wollte sie ihren ganzen Ärger wegwischen, und sagte dann sehr sanft: »Weißt du, was man im Leben tun muss, luv ?«
Alexandre schüttelte den Kopf.
»Man muss lieben. Mit all seiner Kraft. Alles geben, ohne etwas dafür zu erwarten. Und dann funktioniert es. Aber dieses Rezept klingt so simpel, dass niemand daran glaubt! Wenn du jemanden liebst, hast du keine Angst mehr vor dem Sterben, du hast vor überhaupt nichts mehr Angst … Seit wir uns treffen, zum Beispiel, seit ich weiß, dass ich dich jeden Tag nach der Schule sehen werde, dass du stehen bleiben oder mir auch einfach nur im Vorbeigehen zuwinken wirst, tja … seitdem bin ich glücklich. Für mich ist es schon ein Glück, dich nur zu sehen. Ich bekomme Lust, aufzustehen und herumzuhüpfen … Das ist mein ganz persönliches Glück. Aber wenn du dieses Glück einem reichen Bonzen schenkst, weiß er nichts damit anzufangen, er schaut es an wie einen dicken Hundehaufen und wirft es in den Müll …«
»Wenn ich nicht mehr käme, wärst du dann unglücklich?«
»Ich wäre mehr als unglücklich, ich würde alle Lust zu leben verlieren, und das ist das Allerschlimmste! Aber das ist nun mal das Risiko bei der Liebe. Denn es gibt immer ein Risiko, beim Geld, bei der Freundschaft, bei der Liebe, beim Pferderennen, beim Wetterbericht, immer …Ich gehe das Risiko immer ein, denn es ist das erste Zipfelchen des Glücks!«
Jemanden lieben …, überlegte Alexandre.
Er liebte seinen Vater. Er liebte Zoé, aber er sah sie nicht mehr. Er war in Annabelle verliebt,
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