Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
dicken schwarzen Schuhen – es schneit, Monsieur Philippe, Sie sollten nicht in Mokassins rausgehen, sonst rutschen Sie noch aus –, mit einer großen Blumenvase voller weißer Pomponrosen in der Hand, die sie auf dem Markt gekauft und mit hellgrünen Olivenzweigen arrangiert hatte.
»Diese Blumen sind wunderschön, Annie …«
»Danke, Monsieur. Ich dachte, das würde das Wohnzimmer etwas fröhlicher wirken lassen …«
»Haben Sie Alexandre gesehen?«
»Nein. Und darüber wollte ich mit Ihnen reden. Er verschwindet oft in letzter Zeit. Er kommt immer später aus der Schule, und auch wenn er keine Schule hat, bleibt er kaum noch zu Hause.«
»Vielleicht ist er verliebt. Er kommt jetzt in das Alter …«
Annie hüstelte und räusperte sich verlegen.
»Glauben Sie wirklich? Und was, wenn er in schlechte Gesellschaft geraten ist?«
»Hauptsache, er ist um sieben Uhr wieder hier. Meine Eltern essen sehr früh, sogar am Heiligabend … und sie können es nicht leiden, wenn wir zu spät kommen. Mein Vater verabscheut die Feiertage und das ganze Glöckchengeklingel. Ich wette, um Mitternacht liegen Sie bereits im Bett!«
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich mitzunehmen. Dafür wollte ich mich noch bei Ihnen bedanken.«
»Ich bitte Sie, Annie! Sie werden doch wohl nicht den Heiligabend allein in Ihrem Zimmer verbringen, während alle anderen feiern!«
»Das bin ich gewöhnt, wissen Sie … es ist jedes Jahr das Gleiche. Ich suche mir ein gutes Buch aus, eine kleine Flasche Champagner, eine Scheibe Gänsestopfleber, ich toaste ein paar Scheiben Brot und lese. Ich zünde eine Kerze an, schalte Musik ein, ich höre so gern Harfe! Das ist sehr romantisch …«
»Und mit welchem Buch wollten Sie dieses Jahr den Heiligen Abend verbringen?«
»Alexandre Dumas. Das Halsband der Königin . Ein wunderschönes Buch!«
»Es ist lange her, seit ich Alexandre Dumas gelesen habe … vielleicht sollte ich ihn mir wieder einmal vornehmen …«
»Wenn Sie möchten, leihe ich Ihnen mein Exemplar, wenn ich es ausgelesen habe …«
»Sehr gern, danke, Annie! Jetzt gehen Sie und machen Sie sich fertig, wir fahren gleich los …«
Annie stellte die Vase auf den Couchtisch, trat ein paar Schritte zurück, um die Wirkung zu prüfen, trennte zwei ineinander verhakte Olivenzweige und eilte anschließend in ihr Zimmer, um sich umzuziehen.
Philippe sah ihr belustigt nach: In ihrer Hast verband sich die fiebrige Erregung eines jungen Mädchens, das sich für ein Rendezvous zurechtmacht, mit der unverkennbaren Schwerfälligkeit des Alters, die sie hemmte und verriet. Wie Annies geheimes Leben wohl aussieht?, überlegte er, als er sie im Flur verschwinden sah. Das habe ich mich noch nie gefragt …
Unter einer großen Eiche mit langen schwarzen, kahlen Ästen sahen Alexandre und Becca zu, wie der Schnee fiel. Alexandre streckte die Hand aus, um eine Flocke aufzufangen, und Becca lachte, weil die Flocke auf Alexandres Handfläche so schnell schmolz, dass er gar nicht dazu kam, sie genauer zu betrachten.
»Es heißt, wenn man Schneeflocken unter einer Lupe anschaut, sehen sie aus wie Seesterne!«
»Vielleicht solltest du allmählich nach Hause gehen, luv … Dein Vater macht sich sonst noch Sorgen.«
»Ich hab’s nicht eilig … Wir essen heute Abend bei meinen Großeltern, das wird eine ziemlich trostlose Angelegenheit …«
»Wie sind sie denn so?«
»Steif und starr wie zwei alte Strohpuppen! Sie lachen nie, und wenn ich sie küsse, pieksen sie!«
»Alte Leute pieksen oft …«
»Du piekst nicht. Du hast eine ganz weiche Haut … Du bist gar keine richtige Alte, du schummelst!«
Becca lachte laut auf. Sie hob die in dicken, violett-gelben Handschuhen steckenden Hände ans Gesicht, als ließe dieses Kompliment sie erröten.
»Ich bin vierundsiebzig Jahre alt, und ich schummele nicht! Ich habe mittlerweile das Alter erreicht, in dem man das offen zugeben kann. Lange habe ich mich jünger gemacht, als ich war, ich wollte keine alte Schachtel werden …«
»Du bist keine alte Schachtel! Du bist eine junge Schachtel!«
»Das ist mir doch egal, luv … Alt zu sein ist sehr entspannend, weißt du, man braucht nicht mehr so zu tun, als ob, man braucht anderen nichts mehr vorzumachen, es ist einem völlig egal, was die Leute denken …«
»Selbst wenn man kein Geld hat?«
»Denk doch mal nach, luv : Wenn ich Geld hätte, dann hätten wir beide uns niemals kennengelernt. Dann hätte ich nicht hier im Park in meinem Rollstuhl
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